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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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brachte den Kapitän buchstäblich um den Verstand.
    War es Unaufmerksamkeit? War es Unbeholfenheit? Françoise in ihrem mit Margeriten bedruckten Kleid hatte das andere Ufer schon erreicht und verschwand um die Biegung des Pfads. Ihr silberhelles Lachen war noch von weitem zu hören. Und der Kapitän war allein zurückgeblieben. Sein Kopf wäre um ein Haar an der Spitze eines aus der Gischt herausragenden Felsblockes aufgeschlagen. Nun lag er ungefähr fünfzig Meter stromabwärts in achtzig Zentimeter tiefem, tobendem Wasser, planschend, mit grotesken Bewegungen gegen den Strom ankämpfend, und hatte größte Mühe, wieder aufzustehen. Das Lächerliche seiner Lage erschien ihm nun in vollem Ausmaß: Sollte er, Combaluzier, den Fängen der See, die so oft hartnäckig darauf aus gewesen war, ihn zu verschlingen, mit Mühe entkommen sein, um schließlich hier zu ertrinken, mitten in den Bergen, in achtzig Zentimeter tiefem Wasser? In eiskaltem Wasser zwar, aber doch in Süßwasser! Das hätte sogar das Schicksal zum Lachen gebracht! Und auch Combaluzier konnte auf dem ganzen Weg vom Bachbett bis zu seiner anglonormannischen Villa das Lachen nicht unterdrücken; ein trockenes, krampfartiges Lachen, in das sich das unaufhörliche Klappern seines künstlichen Gebisses mischte, wodurch sein Schüttelfrost so eindrucksvoll unterstrichen wurde.
    Es konnte nun keinen Zweifel mehr daran geben, der Tod des armen Fondère war ein gutes Beispiel dafür: Das Verbrechen zahlte sich wirklich nicht aus in diesen Tälern. Da war es wohl besser, sich mit den eigenen mühevoll angehäuften Ersparnissen zufrieden zu geben und sich lieber nicht mit Stärkeren anzulegen. Denn einen Trittstein in einer Furt sorgfältig zu unterhöhlen, wohl wissend, dass sie zu dieser Jahreszeit nur ein Einziger benutzen würde, um zu einem für ein gewisses Vorhaben geeigneten Dickicht zu gelangen, dazu ist nicht jeder Beliebige in der Lage. Von nun an ließ der Kapitän sein Fernglas am Haken hängen.
    »Wer sich in nichts einmischt, muss auch nichts mit ausbaden.« Diesen Spruch hatte ihm seine Mutter eingebläut, und er wurde nun zur Richtschnur seines Handelns. Ihm hatte er es auch zu verdanken, dass er erst viel später friedlich in Barles starb, im Trockenen, in seinem Bett, in das er allerdings Françoise nie hineingekriegt hatte.
    Pencenats Grab wurde in diesem Herbst öfter besucht als das eines Heiligen. Man zeigte sich auch das Grab Fondères, das dieser arme Trottel Pencenat für sich selbst vorgesehen hatte. Keiner achtete jedoch auf den waagerechten Schlitz in der Tür, mit dem alles angefangen hatte und dessen Geheimnis nun, da Pencenat tot war, nur noch einer kannte.
    Aber selbst der aufsehenerregendste Skandal legt sich schnell in diesen tief eingeschnittenen Tälern, wo die Geographie, die Geologie, das Aussehen, die spärlichen Worte und der Charakter der argwöhnischen Bewohner einen ständig vor neue Rätsel stellen. Es folgten zwei stürmische und regnerische Wochen, die einen Vorgeschmack von der kommenden Jahreszeit gaben und die letzten Blätter von den Bäumen rissen. Immer öfter sah man Kinder mit Mützen auf dem Kopf. Und als sich eines schönen Abends die niedrige Wolkendecke lichtete, konnte man sehen, dass der Estrop seine drei Köpfe mit einem gespenstischen Laken verhüllt hatte.
    Sogar der Gipfel des Blayeul war mit weißen Striemen überzogen, die von den Windstößen aufgewirbelt wurden. Nichts ist besser geeignet, die aufgewühlten Gemüter zu beruhigen, als die Zeichen, die dem Winter zu seinem Auftritt gegeben werden. In diesem Fall umso mehr, als es in Barles nun sichtlich nichts Neues mehr zu entdecken oder zu erfahren gab.
    Bald schon blieben wir, die zweihundert Einwohner von damals, allein im Dorf zurück. Man hatte zwar noch ein Auge auf uns, aber nur sporadisch und ohne besonderen Nachdruck. Über den Dächern von Barles begannen die Rauchfahnen der Kamine – von Fall zu Fall verschieden – sich liebevoll zu umschlingen oder wütend gegenseitig abzustoßen. Denn zwischen den Kaminen herrschten teils enge Bindungen, teils heftige Abneigung, und das hatte weniger mit den Launen des Windes zu tun als mit der Entscheidung der ersten Einwohner, ihre Kamine entweder eng beieinander oder möglichst weit voneinander entfernt zu errichten. Und so konnte man nun in der Dämmerung der kurzen Abende die Windungen des aufsteigenden Rauchs verfolgen, die sich teils arrogant voneinander absetzten, teils lasziv miteinander

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