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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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Véronique und dann noch die Nichte von Ambroisine.«
    Laviolette dachte einige Sekunden über die Worte des Alten nach.
    »Was führt Sie zu der Annahme, dass sie auch bedroht wären?«
    »Die Zeitung behauptet, man habe bei den Opfern einen Brief gefunden, in dem stand:
    Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden. «
    »Ja. Und?«
    »Und? Wenn es um jemanden geht, der schlecht gemessen hat, wird sich meiner Ansicht nach in ganz Digne und sogar im weiteren Umkreis nicht so schnell jemand finden, auf den das so gut zutrifft wie auf diese Melliflores.«
    Er blies eine Rauchwolke weit von sich und schwenkte seine Pfeife mit jener beredten Geste, mit der er auf den verwickelten Charakter der Dinge dieser Welt hinzuweisen pflegte.
    »Jedenfalls soweit das Gedächtnis ins Dunkel der Vergangenheit zurückreicht.«
    »Richtig, genau darüber wollen wir reden! Neulich haben Sie mir erklärt: ›Wir werden am besten mittendrin anfangen.‹ Nun hätte ich gern die erste Hälfte der Geschichte von Ihnen gehört.«
    »Sieh mal einer an! Sie haben ein gutes Gedächtnis, trotz der Zigaretten!«
    »Und Sie trotz der Pfeife!«
    »Entschuldigen Sie mal, das ist etwas völlig anderes! Das inhalierte Papier zerstört das Gedächtnis, nicht der Tabak!«
    Auf diese gewagte Behauptung seines Gesprächspartners ließ sich Laviolette nicht ein.
    »Da gibt es allerdings etwas«, fuhr der Alte mit einer gewissen Ernsthaftigkeit fort, »das mir zu denken gegeben hat. Es ist das Porträt, das Sie mir neulich gezeigt haben. Der da, Donnerwetter, das war ein echter Melliflore: Dickköpfig, schwer von Begriff, nur auf sein Recht aus. Nach gründlichem Nachdenken bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es sich eindeutig um denjenigen handeln muss, der für den ersten Skandal verantwortlich war. Ich habe Ihnen übrigens neulich gesagt, Sie sollten mich daran erinnern, Ihnen davon zu erzählen. Das wird Ihnen zwar nicht weiterhelfen, aber wo Sie doch so an der Vergangenheit hängen …«
    »Ich will offen zu Ihnen sein«, sagte Laviolette. »Ich gehöre weder zur Polizei noch zur Gendarmerie. Ich denke nicht pragmatisch. Ich interessiere mich keineswegs nur für handfeste Tatsachen. Sie erzählen mir von Schatten? Umso besser! Ich fühle mich sehr wohl inmitten von Dingen ohne Substanz. Und ich will Ihnen noch etwas sagen: Ich glaube nicht, dass der Schuldige wirklich tot ist. Dem Toten hat man überhaupt kein Motiv nachweisen können. Und schließlich tötet man nicht zwei Menschen ohne ein ernsthaftes Motiv, meinen Sie nicht auch?«
    »Andererseits findet man die Wahrheit auch nicht mit Hilfe von Geschichten, die sich vor über hundert Jahren zugetragen haben«, entgegnete der Alte. »Weil … Dieser Mann … Dieser Mann, dessen Porträt in dem Pavillon hing, der hat vor mehr als einem Jahrhundert gelebt. Seine Geschichte muss sich so um 1860 abgespielt haben. Das liegt doch wohl ein bisschen weit zurück.«
    »Zugestanden. Aber eine Geschichte hat sich immerhin abgespielt!«
    »Allerdings! Eine Geschichte hat sich abgespielt, seine Geschichte. Ich sagte ›dickköpfig, schwer von Begriff, nur auf sein Recht aus‹. Ich hätte noch ›rachsüchtig‹ hinzufügen müssen. So hat ihn mir zumindest mein Vater beschrieben. Weil … Denken Sie immer daran, dass mir alles, was ich über diese Person weiß, mein Vater erzählt hat. Ich war ja noch nicht geboren. Unglücklicherweise war dieser Mann einer von zwei Söhnen. Er war der jüngere Bruder, und es gab nur ein Gewehr da oben, in Barles, auf diesem Hof, den man Hundsgifthof nannte, weil dort nur Hundsgiftgewächse wuchsen.«
    »Ich weiß. Ich war dort.«
    »Ich rede von Dingen, die sich unter Napoleon III. abgespielt haben!«
    »Na und? Das kann damals kaum armseliger ausgesehen haben als heute.«
    »Richtig! Was einen an dieser Familie Melliflore faszinieren konnte, war ihre Armut und die Art und Weise, wie sie mit Knauserigkeit und Habgier dagegen ankämpften. Und dazu noch mit einer souveränen Missachtung der großen Errungenschaften der Revolution. Als ob es die nie gegeben hätte. Nun, zu jener Zeit war der jüngere Bruder vielleicht zwanzig Jahre alt. Sein Vater liegt im Sterben. Sie wachen bei ihm, alle beide, der ältere Bruder und er. Sowie der Vater seinen letzten Atemzug getan hat, erhebt sich der jüngere Bruder von seinem Stuhl, schließt dem Alten die Augen, um ganz sicherzugehen, dass er auch wirklich von hinnen gegangen ist, und sagt, ohne sich umzudrehen, zu seinem

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