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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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älteren Bruder: ›Du wirst mich nicht so behandeln, wie er seinen Bruder behandelt hat. Du wirst mich nicht vor die Tür setzen wie einen Dienstboten, zum Schafehüten in der Crau. Wir werden teilen. So will es im Übrigen das Gesetz.‹
    Aber als er sich zu ihm umdrehte, sah er seinen Bruder, mit dem einzigen Gewehr des Hauses in der Hand. Er hatte es vorsorglich vom Haken genommen. ›Du wirst gefälligst verschwinden‹, sagte er zu ihm. ›Hier herrscht nicht das Gesetz, hier herrscht die Natur! Wenn dir das nicht passt, musst du dich bei dem da beschweren!‹ Er zeigte auf den Leichnam im Bett. ›Er hat sich den Spaß gemacht, dich zu zeugen, der Dreckskerl! Ich reiße mich schon seit fünf Jahren am Riemen mit der Francette, seit wir ein Kind bekommen haben! Er hätte es nur so zu machen brauchen wie ich!‹ Na ja, an weiteren Gründen fehlte es ihm nicht. Er hat zugesehen, wie der andere seine Siebensachen packte, den Gewehrlauf zwischen den Schulterblättern.
    ›Wer kann schon wissen, wohin er gegangen ist, um sein Glück zu machen?‹, werden Sie mich fragen. Nun, zufällig weiß ich es. In unserer Gegend war er nämlich nicht der einzige Arme. Mein Vater, zum Beispiel, war auch arm, trotz seines Examens. Wissen Sie, damals verdiente ein Arzt nicht viel! Mein Vater hat mich erst mit dreiundvierzig gezeugt!
    Vorher konnte er sich kein Kind leisten, so wenig hatte er zum Leben!
    Hier gab es schon einen Arzt, und so selten, wie sich die Leute behandeln ließen, war sogar der eine zu viel … Was hat mein Vater also getan? Er hatte von einem Kanton gehört, ganz da oben, tief drinnen in den Bergen, wo es bisher noch nie einen Arzt gegeben hatte. Abriès hieß der Ort. Mein Gott, Abriès! Es ist bestimmt schon vierzig Jahre her, seit ich das letzte Mal dort war! Und dabei hätte es sich gelohnt. Eine herrliche Gegend! Voller Quellen, voller Bäume! Eine Gegend, in der man die Stille flüstern hört!«
    »Was wollte Ihr Vater in Abriès?«
    »Sein täglich Brot verdienen! Und das im wahrsten Sinn des Wortes! Nicht um sich ein neues Paar Schuhe zu kaufen, einen Anzug, oder mehr noch, um sich ein Haus bauen zu können! Nein. Es ging wortwörtlich darum, sein täglich Brot zu verdienen.
    Als er ankam, hatte er nicht einmal eine Unterkunft, das muss man sich erst einmal vorstellen! Er teilte sich das Pfarrhaus mit dem Pfarrer. Wie oft sind sie im Schneesturm zusammen losgeritten, auf dem einzigen Maultier, das sie besaßen. Der Pfarrer lenkte das Tier, und die Schulter meines Vaters war wie von einer Lanze beschwert, durch das Kruzifix am Ende des Hirtenstabs! Der eine brachte den letzten ärztlichen Beistand, der andere die letzte Wegzehrung. ›Großartig müssen wir ausgesehen haben‹, erzählte mir mein Vater, ›zu zweit auf diesem entkräfteten Maultier, das vielleicht zwanzig Jahre alt war und im Stehen schlief! Glücklicherweise waren der Pfarrer und ich derart mager, dass wir es zusammen kaum auf einen Doppelzentner brachten!‹«
    Laviolette beobachtete den Alten, wie er seine Geschichte durchlebte, indem er auf der Bank das Traben des alten Kleppers nachahmte, der vor über hundert Jahren verendet war. Die Flüssigkeit im Pfeifenrohr machte ein grässliches Geräusch, als wollte sie überlaufen, und der Pfeifenkopf war gerade mangels Brennstoffes ausgegangen. Aber der Alte kümmerte sich nicht darum. Er sog die Leere ein. Er brauchte jetzt kein Anregungsmittel mehr. Er berauschte sich an seiner eigenen Substanz, so stark fühlte er sich von diesem Schlund der verlorenen Jahre angezogen, deren Lebendigkeit und Farbe er dennoch mit so viel Schärfe hervorzuheben wusste.
    »Und dort oben war es denn auch, eines Nachts, als er diesem Melliflore aus Barles begegnete, den sein Bruder davongejagt hatte. O je, unter traurigen Umständen ist er ihm begegnet«, fuhr der Alte fort. »Stellen Sie sich vor! Ein Fackelzug in einer verschneiten Nacht. Zehn brüllende, tobende Männer, die durch die Schützengräben angerannt kommen, in die sich die Straßen von Abriès im Januar verwandeln. Und die hinter einem anderen her sind, mit Heugabeln in der Hand, um ihn umzubringen. Und dieser andere klopft heftig gegen die Tür des Pfarrhauses, und mein Vater geht ohne Jacke hinunter, um ihm aufzumachen. Und der andere in höchster Aufregung, auch nur im Hemd (mein Vater sagte, draußen sei es minus zehn oder minus fünfzehn Grad kalt gewesen) und mit unvollständig zugeknöpfter Hose, ruft mit leiser Stimme: ›Verstecken

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