Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
Vom Netzwerk:
der Weltausstellung von 1900 gewesen wären. Das war noch vor der Präsidentschaft von Armand Fallières!«
    »Ach komm! Du spinnst doch!«
    »Na und?«, rief der Lehrer, der den Streit der beiden mit Ungeduld verfolgt hatte. »Na und? Was ist daran so komisch? Was ist daran so merkwürdig? Manche Dinge gehen durch die Zeit und durch die Nacht hindurch, ohne dass der gewöhnliche Sterbliche etwas davon mitkriegt! Da kann ich nur lachen! Was wissen Sie schon? Was können Sie schon mit Sicherheit behaupten? Höchstens, dass Ihre Sinne Sie täuschen. So frage ich Sie: War es wirklich Ihr Nachbar Alartéus, den Sie vorhin im Mondschein gegrüßt haben? Oder vielleicht doch eher der Schatten seines Großvaters, der seinen Stock wütend gegen die Steine des Hohlwegs schlug? Können Sie denn so genau wissen, Sie Minderbemittelte, ob die Zeit nicht manchmal entgleist, ohne Vorwarnung? Mit hoher Geschwindigkeit? Nur für einen kurzen, blendenden Augenblick? Einen Sprung macht in die Vergangenheit oder in die Zukunft?«
    »Das hat er uns an den Kopf geworfen! Einfach so, ohne drum herumzureden. Bei solchen Sachen, da kann’s einem schon ganz anders werden!«, erzählte später der Grand Magne, ein einfacher Postbusfahrer, an manchen Abenden, wenn das Wetter in den Bergen schlecht war.
    »Ich jedenfalls«, begann der Metzger, »ich hab gute Augen, das kann ich Ihnen garantieren, und …«
    »Nichts! Gar nichts können Sie garantieren! Was können Sie schon mit Sicherheit behaupten, Sie armer Ignorant, frage ich Sie? Womit können Sie sich brüsten?«
    Mit einer rächenden Geste spielte der Lehrer seine Trumpf-Sieben aus und stach damit das Karo-Ass des Grand Magne, auf das Combaluzier eine blanke Zehn gelegt hatte.
    Er richtete seinen unerbittlich forschenden Blick über den Rand seiner Brille hinweg auf seine Mitspieler: »Hätten Sie die Streiche der vergangenen Zeiten richtig bemessen«, sagte er, »würden Sie sich im Boden verkriechen. Manchmal braucht das Schicksal nur eine kleine Pirouette zu drehen, um Sie alle platt zu machen.«
    In diesem Moment ertönte ein ohrenbetäubendes Geräusch über ihren Köpfen, als ob Möbelpackern ein Klavier an einer langen Steigung aus den Händen geglitten wäre. Instinktiv duckten sich alle vier, aber niemand so tief wie der Hochseekapitän.
    Es war die erste Lawine des Jahres, die sich dort oben, in etwa dreitausend Metern Höhe, vom Estrop gelöst hatte. Ihr Lärm hatte sich in das Tal des Bès gedrängt wie in einen Trichter. Auf diese Art wehrte sich der Berg gegen den zu früh gefallenen Schnee, den er nicht halten konnte.
    Der Kapitän starrte auf seine drei Genossen. Sie schauten drein wie Hasen am Ende der Schonzeit. Sie waren alle von hier. Sie hatten alle die gleichen schmalen Lippen wie ihre Vorfahren, weil sie ihr ganzes Leben lang zu viele Geheimnisse für sich behalten hatten.
    Er verließ sie mit gebeugtem Rücken, in seine eingelaufene Matrosenjacke gezwängt. Jahrzehntelang hatte diese Jacke schwere Brecher abbekommen und war nun genauso salzgetränkt wie ihr Besitzer.
    Hunderte Male hatte Combaluzier davon profitiert, dass der Tod keine Eile hat. Doch nie zuvor hatte er ihn als so allgegenwärtig und betriebsam empfunden wie in diesem friedlichen und stillen Tal.
    »Es wird Zeit, dass ich aus Barles verschwinde«, sagte er sich. »Das Meer ist nicht weit genug entfernt von hier.«

10
    AN jenem Morgen, als Laviolette die Allee hinaufging, um den alten Mann aufzusuchen, verloren die Kastanienbäume ihre letzten Blätter. Der Alte saß dort oben schön aufrecht auf der grünen Bank, umhüllt von einem milchigen Schleier, der aus seiner Pfeife aufstieg, mit leicht säuerlicher Miene; der Miene eines Menschen, der nicht zu verbergen suchte, dass ihm alle Mitmenschen gestohlen bleiben konnten.
    »Sieh mal einer an!«, sagte er missvergnügt. »Ich dachte schon, Sie würden gar nicht mehr kommen.«
    »Wieso? Sehe ich etwa aus wie jemand, der sich mit einer halben Geschichte zufrieden gibt?«
    »Das nicht, aber … Es ist doch alles erledigt? Die Angelegenheit ist doch wohl abgeschlossen? Das hab ich in der Zeitung gelesen. Angeblich ist der Mörder sogar tot.«
    »Jemand ist umgekommen, das stimmt«, brummte Laviolette, »aber ob es der Mörder war …«
    »Auf alle Fälle sind die beiden Pfennigfuchserinnen noch einmal heil davongekommen!«
    »Wer bitte?«
    »Na wer schon? Die beiden letzten eben. Die, die noch übrig sind … Da wäre zunächst die Schwester von

Weitere Kostenlose Bücher