Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
Novembernachmittag ihren heißen Atem in die verschmutzte Winterluft spien. Er fragte sich, ob jemand da draußen ihn beobachtete, ob Bright auch nur die leiseste Ahnung hatte, wo er gerade war, und falls ja, was er gegen ihn im Schilde führte.
Raffin kam wie immer zu spät – genauso wie bei ihrer ersten Verabredung an diesem Ort vor über zwei Jahren. Enzo war von Barcelona aus direkt nach Paris geflogen und schon seit zwei Tagen da, um sich bei seinen Ermittlungen Hilfe zu holen, bevor er sich entschloss, Anna anzurufen. Um von ihr unter anderem zu erfahren, dass Raffin schon vor mehreren Tagen die Auvergne verlassen hatte, weil er in die Hauptstadt zurückkehren wollte. Daraufhin rief er ihn augenblicklich an, um sich mit ihm zu treffen.
«Möchtest du noch eins?»
Enzo blickte auf und sah, wie Raffin einen blutroten Schal ablegte. Seinen langen Kamelhaarmantel mit aufgeklapptem Kragen trug er offen und darunter einen beigen Pulli mit Rundhalsausschnitt zur schwarzen Jeans. Seine braunen Lederschuhe waren auf Hochglanz poliert.
Er zeigte auf Enzos Glas.
«Nein, danke.»
Raffin zuckte die Achseln und winkte, während er sich setzte, einen Kellner heran, um einen Kaffee zu bestellen. «Und? Was gibt’s Neues?»
«Inwieweit bist du im Bilde?»
«Ich weiß nur, was Kirsty mir am Telefon erzählt hat.» Allein die Erwähnung ihres Namens beschwor die Trübsal herauf, die Enzo seit dem Abend in Simons Wohnung kaum noch abschütteln konnte. «Das über die Bright-Zwillinge und wie Rickie Bright euch in der Londoner U-Bahn verfolgt hat. Wie bist du in Spanien vorangekommen?»
Enzo erzählte ihm von der Begegnung mit Señora Bright, ihrem Verdacht gegen die Frau am Pool, dem blutverschmierten Pandabär.
«Kannst du mit dem Blut was anfangen?»
«Ich hab schon jemanden drangesetzt. Die Ergebnisse müssten wir im Lauf des Nachmittags bekommen.»
Raffin rieb sich erfreut die Hände. «Das entwickelt sich langsam zu einem richtigen Knüller, Enzo.» Die Feindseligkeiten zwischen den beiden, die unschönen Worte, die gefallen waren, schien Raffin im Moment in irgendeinem anderen Schubfach in seinem Kopf verstaut zu haben. Der Journalist in ihm witterte eine Sensation. Enzo hatte bereits zwei der sieben Mordfälle aufgeklärt, über die Raffin in seinem Buch geschrieben hatte. Beide hatten für Schlagzeilen und Kontroversen gesorgt. Nun sah es so aus, als stünden sie kurz vor der Lösung des dritten Falls.
«Wieso bist du nach Paris zurückgekehrt, Roger?»
Roger warf ihm einen Blick zu, und Enzo registrierte, dass er sich seine Antwort wohl überlegte. «Es ging mir langsam auf die Nerven, da oben in diesem verdammten Haus eingepfercht zu sein. Außerdem muss ich mir schließlich meine Brötchen verdienen. Ich hab keine Universität, die mir mein Gehalt weiterzahlt, während ich als Sherlock Holmes in der Weltgeschichte herumkutschiere.»
«Hattest du keine Angst?»
«Wovor?»
«Dass Bright dir folgt.»
Raffin lachte. «Nein. Er ist hinter dir her, Enzo, nicht hinter mir. Ich begebe mich wahrscheinlich in größere Gefahr, wenn ich mit dir zusammen bin.» Er nahm einen Schluck Kaffee. «Du sagtest, du hättest für heute Nachmittag ein Treffen verabredet. Geht es dabei um die Blutanalyse?»
«Nein, um die Kassette, die ich meinem Stimmenexperten hier in Paris geschickt habe. Die Aufzeichnung des Telefonats zwischen Bright und Lambert einen Tag vor dem Mord.»
Raffin runzelte die Stirn. «Was ist damit?»
«Das weiß ich noch nicht. Das versuchen wir ja gerade rauszufinden.»
* * *
Pierre Gazaigne leitete im Auftrag der Université Paris-Sud 11 sowie der Université Pierre et Marie Curie ein Forschungsprojekt, bei dem es um die Analyse von gesprochenem Französisch ging. Die Gruppe arbeitete in einem kleinen Bürotrakt mit Sprachlabors im obersten Stock eines umgebauten Wohnhauses aus dem neunzehnten Jahrhundert in der Rue de Lyon im zwölften Arrondissement.
Von der Metrostation am Place de la Bastille liefen Enzo und Raffin Richtung Süden. Sie fanden das Gebäude dreihundert Meter weiter an der Westseite der Straße und zwängten sich in einen winzigen Fahrstuhl, der sie in den sechsten Stock transportierte. Dort angekommen, traten sie in einen düsteren Flur, in dem sie durch Schwaden von Zigarettenrauch die grauen Gesichter von einem halben Dutzend Nikotinsüchtiger ausmachen konnten, die mürrisch ihre Glimmstängel pafften.
Einer von ihnen hustete mit einem deutlich hörbaren Rasseln im
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