Der Moloch: Roman (German Edition)
General gesehen? Jeder tat das. Damals jedenfalls. Worauf ich hinauswill, Fell, ist, dass viel Blut unter der Brücke hindurchgeflossen ist, seit du ihn zum letzten Mal gesehen hast. Der General wurde vor Gericht gestellt, gefoltert, ins Gefängnis gesteckt, und seine Familie wurde abgeschlachtet. Jetzt lebt er unter einem neuen Namen im Untergrund, weit ab vom Blick des Kaisers. Seine Tochter ist adoptiert. Aber Shuskara vertraut dir, und er hat seine eigenen Gründe, den Sturz des Kaisers zu wollen.«
» Du hast selbst niemals mit ihm gesprochen?«
» Nein. Heutzutage ist es einem Zivilisten unmöglich, in die Cité zu gelangen. Sie ist ein Ort der Furcht und des Misstrauens. Aber Botschaften gelangen hinein und hinaus, wenn auch mühsam.«
Fell stand auf, lockerte Schultern und Rücken und ging dann in dem kleinen Raum auf und ab. Er hatte keinen Grund, diesem Mann zu glauben, im Gegenteil. Es gab genug Gründe, es nicht zu tun. Trotzdem war er fasziniert. Er trat hinter Maron, der sich weder umdrehte, um ihn anzusehen, noch sich furchtsam verspannte.
» Ich möchte mich nur überzeugen, dass ich dich richtig verstanden habe«, sagte Fell. » Du willst, dass ich in die Cité zurückkehre, Shuskara finde und ihm sage, wir sollten die Armeen gegen den Kaiser aufbringen, die Cité einnehmen und den Kaiser töten – und zwar, weil unser Feind das gerne von uns möchte? Das ist dein Plan?« Er lachte und spürte, wie etwas von der Anspannung von seinen Schultern fiel.
» Du hast einmal darum gebettelt, den Kaiser zu töten.«
» Ich war ein Kind.«
» Du warst dreizehn Jahre alt, also fast ein Mann, und hattest gerade zugesehen, wie ein Freund einen schrecklichen Tod gestorben war.«
Fell spürte, wie das Brandmal auf seiner Brust juckte, und widerstand dem Bedürfnis, sich dort zu kratzen.
» Ihr wart zu fünft und musstet alle den Schmerz dieser Brandmarkung ertragen, selbst die Jüngsten, weil ihr glaubtet, der Kaiser wäre böse und müsste sterben. Bist du jetzt etwa weniger überzeugt als damals?« Er wartete nicht auf eine Antwort. » Natürlich. Wir alle gehen mit fortschreitendem Alter Kompromisse ein. Du hast diesen Wunsch vergessen und dein Leben weitergelebt. Denn du warst privilegiert, warst Adjutant des berühmten Shuskara, warst ein Freund des größten Mannes im ganzen Land. Warum also solltest du dich an den Schwur eines Kindes erinnern, wo du doch so viel zu verlieren hattest?«
Fell setzte sich wieder hin, sagte jedoch nichts.
» Glaubst du, dass sie alle ihren Schwur vergessen haben, Fell?«
» Ganz offensichtlich, denn es sind dreißig Jahre verstrichen, und der Unsterbliche lebt immer noch.« Er sah Maron in die Augen und glaubte, so etwas wie Verachtung zu erkennen. Dann jedoch rief er sich ins Gedächtnis, dass dieser Mann versuchte, ihn zu manipulieren.
» Möchtest du gern wissen, was aus ihnen geworden ist? Aus Ranul, Evan, Riis und Parr?«
» Eigentlich nicht«, gab Fell zurück. » Ich würde lieber in meine Zelle zurückkehren. Du irrst, wenn du glaubst, dass ich dir irgendetwas anzubieten hätte. Oder du mir.«
» Fell.«
Die Wand war verputzt und früher einmal weiß gestrichen gewesen. Aber sie war feucht, und der größte Teil der Farbe hatte Blasen geworfen und war abgebröckelt. Deswegen hatte die dunkelgraue Wand jetzt lepröse helle Flecken. Fell hatte dasselbe kleine Stück Wand seit mehr als einhundert Tagen jeden Tag angestarrt. Er kannte seine Inseln, Ozeane und Schiffe aus Farbe besser, als er sein eigenes Gesicht kannte. Dieses Stück Wand war Heimat für ihn, ein Ort, an den er sich vor den Geräuschen und Gerüchen der beiden Männer, mit denen er sich die Zelle teilte, zurückziehen konnte. Er starrte auf die Karte an der Wand und reiste in seinem Verstand zu vergangenem Ruhm, zu gewonnenen Schlachten, zu Frauen, die er kannte, und Freunden, an die er sich erinnerte.
» Fell!«
Sie hatten aufgehört, ihn ›Ser‹ zu nennen. Hatte er es ihnen selbst befohlen? Er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Es hatte so viele Gespräche gegeben. In den ersten Wochen in der Zelle hatten sie die ganze Zeit geredet, um die Langeweile zu überwinden und Staker dabei zu helfen, mit dem Schmerz seines zerschmetterten Knöchels fertigzuwerden. Zuerst hatten sie über die Schlachten geredet, die sie erlebt hatten, dann über ihre Familien, ihre Heimat und die Frauen, die sie gekannt hatten. Dann hatten Garret und schließlich auch Staker angefangen, über ihre Ängste
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