Der Moloch: Roman (German Edition)
Rätsel. Wie bin ich hierhergekommen? Er schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu klären, aber der Pestilenzgestank, der ihn umhüllte, vernebelte ihm den Verstand. Er war eine lange Steintreppe hinuntergelaufen. Sie schien endlos zu sein. Er musste hingefallen sein, sich den Kopf angeschlagen haben oder angegriffen worden sein. Er konnte sich nicht erinnern. Er bückte sich, tastete in dem Wasser nach seinem Schwert und fand es. Er spürte, wie seine Kraft zurückkehrte.
Seine Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit, und er konnte das fremdartige Leuchten an den Wänden erkennen, das ihm den Weg gewiesen hatte. Er schaute es sich genauer an und legte vorsichtig die Hand darauf, aber es fühlte sich weich und widerlich an und bewegte sich unter seiner Hand wie etwas Lebendiges. Angewidert schüttelte er sich. Er riss die Hand zurück und sah sich nach einem Ausgang um.
Da huschte etwas verstohlen ganz nah an ihm vorbei. Sofort zog er sein Schwert, und Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er bewegte den Kopf hin und her, suchte in der Dunkelheit nach Schemen, bis er schließlich in dem Grau eine noch tiefere Dunkelheit wahrnahm. Er blinzelte ein paarmal, um den Schleim aus den Augen zu pressen.
Er hielt den Atem an, als er einen Mann erkannte, eine Kreatur, die nur ein paar Schritte von ihm entfernt halb im Wasser lag. In dem fahlen Licht sah er aus wie ein alter, in Lumpen gekleideter Mann mit einem langen Bart, dem dünne Haarsträhnen am fast kahlen Schädel klebten. Und er schien mit dicken, schleimigen Tauen an die Wand gefesselt zu sein, die aus demselben leuchtenden Material bestanden wie die Wände. Bei dem Anblick drehte sich Fell fast der Magen um. Der Mann streckte ihm flehentlich die Hände entgegen, und Fell machte einen Schritt nach vorn. Das Licht wurde stärker, und jetzt sah er, dass der Mann uralt war. Er hatte tiefe Falten im Gesicht, seine Haut hing wie schmelzendes Wachs vom Schädel herab. Die dicken Schleimbänder schienen aus seinem Körper zu kommen und ihn an den Steinen der Wand und am Boden zu halten.
Dann bewegte sich noch etwas in der Dunkelheit. Fell erkannte eine zweite Gestalt, die sich dicht an die Seite der Kreatur drängte. Es war ein hundeähnliches Tier mit großen Augen und langen Reißzähnen, die es fletschte, als es Fell anknurrte. Der Soldat sah, dass es ein dickes Halsband trug, das in dem schwachen Licht funkelte. Es hob den Kopf und leckte das zerfließende Gesicht seines Herrn. Dann wandte es sich um und starrte tiefer ins Dunkel. Fell folgte seinem Blick und entdeckte einen Soldaten in der Uniform der Eintausend, der ertrunken im Wasser lag. Mögen ihm die Götter gnädig sein, dachte er.
Der alte Mann stieß ein feuchtes, gurgelndes Geräusch aus, und Fell begriff, dass er versuchte, seinen Namen auszusprechen. Fell.
» Was willst du von mir?«, fragte er und merkte, wie die Angst seiner Stimme eine besondere Schärfe verlieh.
Als die Kreatur sich bewegte, machte sie ein schmatzendes Geräusch, so als würde unter Wasser etwas nachgeben. Fell trat zurück und schaute sich um.
Dann hörte er ganz deutlich ein: » Hilf mir.«
Fell blieb stehen und haderte mit sich selbst. Er sollte diese Kreatur töten, die jetzt gerade völlig schutzlos vor ihm dalag. Aber Mitleid durchströmte ihn. Was auch immer dieses Wesen sein mochte, es litt Schmerzen oder war sonstwie verkrüppelt. Er sollte vortreten und die Kreatur durchbohren, sie von ihren Qualen erlösen; aber nicht einmal dazu war er imstande. Dann erinnerte er sich wieder an seinen Traum, an das Gewicht auf seiner Brust, und er fragte sich, ob diese Kreatur vielleicht auf ihm herumgeklettert war, als er bewusstlos dalag. Es schüttelte ihn wieder, und er schluckte, zwang die Galle zurück in seine Kehle.
Er hob sein Schwert.
» Fell«, sagte eine andere Stimme klar und deutlich hinter ihm. Sie war wie eine kühle Brise an einem brütend heißen Tag. » Araeon kann dir nichts tun, und auch du kannst ihm kein Leid zufügen. Komm.«
Er wirbelte herum. Marcellus Vincerus stand neben ihm, als hätte er schon immer da gestanden. Fell konnte sehen, dass er unbewaffnet war. Er schaute mit einem Ausdruck zu der Kreatur hinüber, den man als Mitgefühl deuten konnte. » Komm, hier entlang«, wiederholte Marcellus dann. Er kehrte dem Kämpfer den Rücken zu und trat durch einen Mauerbogen in die Dunkelheit. Fell schob sein Schwert in die Scheide und folgte ihm.
Fell folgte Marcellus eine Wendeltreppe hinauf.
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