Der Mond ist nicht allein (H´Veredy Chroniken) (German Edition)
keine Puste, Barwarin um Auskunft zu bitten. Das Wichtigste war ihr sowieso klar: Würde die unbekannte Quelle dieses Geräusches sie erreichen, wäre das ihr Tod! Anders war Barwarins geradezu panikartige Flucht nicht zu erklären.
Es dauerte indessen nicht allzu lange, bis Schmerzen an ihren Füßen und Unterschenkeln ihr einen ersten Eindruck vermittelten, was sie erwarten würde, wenn sie nicht schnell genug waren. Auf dem Querstamm, den sie nun entlangrannten, folgte ihnen eine regelrechte Flut handgroßer Krabben. Häufig genug gerieten ihnen die Tiere unter die Füße und wurden zertreten. Doch diejenigen, die nicht zerstampft wurden, schnappten flink mit ihren Scheren zu. Sie schnitten damit mühelos durch Verenas robuste Lederschuhe und Hosenbeine und ritzten ihre Haut überraschend tief ein.
Da wusste Verena, womit sie es zu tun hatten: Es war einer jener alles verschlingenden ´Schwärme´ von Soldaten-Scherenkrabben, die selbst ganze Ortschaften auslöschen konnten.
Barwarin rannte nicht ziellos von den aggressiven Krebstieren davon. Er hatte auf einen Felsensockel mit senkrechten Wänden zugehalten, der etwa fünf Meter über die Baumkronen hinausragte. Wenn es nicht von der anderen Seite einen flacheren Zugang gab, wären sie auf diesem Felsen vor der tödlichen Krabbenflut in Sicherheit. Der Baumstamm, auf dem sie um ihr nacktes Leben liefen, wurzelte mit einer Seite direkt an der Flanke dieses Sockels.
Barwarin begann sofort an der grifflosen, senkrechten Felswand emporzuklettern. Verena musste unten ausharren, bis er aus dem Weg war. Sie drehte sich um und begann, gezielt die heranströmenden Tiere zu zertreten. Bisher hatte sie es nur mit einer kläglichen Vorhut zu tun, wie sie jetzt erkannte. Die Hauptmacht rückte erst noch heran. Ein schwarzer Teppich aus Krabbenleibern schien nun, so weit das Auge reichte, alle Pflanzen zu bedecken, und wäre er erst herangekommen, konnte es nicht lange dauern, bis von ihr nur noch blanke Knochen übrig waren. [47]
Die Lage wurde immer brenzlicher. Es gelang Barwarin einfach nicht, an der senkrechten Wand richtig Halt zu finden, und so blieb Verena der Fluchtweg versperrt. Nach einigen Fehlversuchen stieg er wieder herab und schob an seiner statt Verena ein Stück den Felsen hinauf.
Die Wand war auch für sie nicht weniger tückisch, und Verena brauchte lange, sie zu erklimmen. Mehr als einmal kam sie nicht weiter, musste ein Stück zurücksteigen, um es erneut zu versuchen. Mehr als einmal war sie gezwungen, ihr ganzes Gewicht nur mit den Fingerspitzen zu halten, und ein Absturz schien jeden Moment möglich. Doch irgendwann konnte sie einen Absatz erreichen, der breit genug war, darauf zu stehen, einen Moment zu verschnaufen und sich nach Barwarin umzusehen.
Ihr stockte der Atem. Barwarin hatte keine Gelegenheit mehr bekommen, einen weiteren Versuch zu unternehmen, in die Wand zu steigen. Mit dem Rücken an den Fels gepresst stampfte und trat er auf eine immer noch zunehmende Flut von Krabbenleibern ein. Doch es gelang ihm nicht, sie auch nur für einen Augenblick abzuwehren. Einige der Tiere bewerkstelligten es mittlerweile sogar, bis zur Hüfte an ihm emporzusteigen. Alles bis zu seinen Oberschenkeln war dicht mit blutenden Schnitten übersät.
Er hat keine Chance, selbst noch etwas zu unternehmen! Dreht er sich zur Felswand um, und versucht zu klettern, wird er sofort überrannt. Tut er es nicht, hat er noch einige Sekunden. Das Seil, ich muss ihm das Seil herunterwerfen!
Natürlich gehörte zu Verenas Ausrüstung ein robustes Lederseil. Sie hatte es zusammen mit Barwarin angefertigt und seither trug sie es als ordentliche Rolle am Gürtel, wenn sie es nicht gerade brauchte.
Nur jetzt war es nicht da. Verena musste nach dem opulenten Mahl nicht darauf geachtet haben, es fachgerecht zu befestigen, und so hatte sich die Seilrolle während der wilden Flucht gelöst. Barwarin stirbt durch meine Nachlässigkeit! Er stirbt!
Verena geriet zunehmend in Panik. Die Entdeckung, ihr verlässlichstes Hilfsmittel für eine solche Situation leichtfertig verloren zu haben, lähmte sie wertvolle Sekunden lang. Ich muss etwas tun, ich muss etwas tun, ich muss was tun! Mehr konnte sie in diesen Augenblicken nicht denken. Wieder runter klettern und Barwarins Seil verwenden kann ich nicht. Es wäre keine Zeit, wieder hochzusteigen. Wieder runtersteigen und … und was? Ich kann da nichts ausrichten … Ein großes Feuer auf dem Stamm würde die Biester abhalten. …
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