Der Mond ist nicht allein (H´Veredy Chroniken) (German Edition)
erkenne die Möglichkeiten, die zahlreichen Mittel, die das Leben hier angenehm und etwas sicherer machen, noch nicht immer im Vorübergehen. Wenn ich versuche, mich zu orientieren, ziehe ich nicht genügend einzelne Beobachtungen in Betracht. Ich hatte mir ganz richtig gemerkt, dass diese gelben Malok-Ameisen morgens bevorzugt in südlicher Richtung auf Nahrungssuche ausschwärmen und auch noch drei andere ähnliche Hinweise. Trotzdem habe ich uns in die falsche Richtung geführt. Barwarin konnte mir spontan über Hundert Einzelheiten aufzählen, die mir verraten hätten, dass ich in diesem Fall falsch liege. So ist es mit allem hier. Ich verbringe Stunden damit, nach den wirksamsten Insektenschutzmitteln zu suchen. In der Zwischenzeit verliert das Zeug, das ich schon aufgetragen habe seine Wirkung. Kaum dass ich etwas gefunden habe, das wenigstens ein bisschen hilft und wir, zur Abwechslung mal in die richtige Richtung gehen, stoßen wir sowieso auf jede Menge von dem guten Zeug. Barwarin hätte gesehen, dass wir demnächst in ganz leicht abschüssiges Gelände mit vielen Riesenblütlern kommen. Er hätte kaum einen Gedanken daran verschwenden müssen, sich darüber klar zu werden, welche Auswahl von hilfreichen Pflanzenmitteln er dort zu erwarten haben würde. Wo immer ich zehn bis zwanzig nützliche Fakten kenne und mir wenigstens ein Viertel davon zunutze machen kann, kennt Barwarin zehntausend und kann mit ihnen allen jonglieren.
Tatsächlich konnte Verena aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen bald hervorragend nachvollziehen, warum, wie Barwarin ihr berichtet hatte, die meisten Waldläufer, aber auch Eingeborene, ihr ganzes Leben auf einer einzelnen Ebene des Dschungels verbrachten, zudem noch in einer gewissen Region blieben und sich nur in eine kleine Auswahl von Waldformen trauten. Schon dabei mussten sie zehntausenden Arten von Tieren und Pflanzen begegnen und laufend einschätzen, welches Unbill oder welche Hilfe sie einem Waldläufer bedeuten konnten, wobei jeder Fehler fatal sein mochte. Alle Ebenen gleichermaßen zu verwenden machte einen unglaublichen Berg theoretischen und praktischen Wissens notwendig. Selbst Barwarin, der ´Meister aller Ebenen´ konnte nicht alles wissen, was es hier zu wissen gab. Ein Experte für die Baumwipfel mochte ihm zum Beispiel in diesem speziellen Bereich durchaus noch überlegen sein. Aber ein solcher Baumwipfelspezialist wäre selbst im Vergleich mit Verena in den Lichthöhlen und der unteren Lichtwelt verloren gewesen.
Barwarin lehrte sie, während sie in Bewegung waren, ununterbrochen Neues und verhinderte immer wieder, dass Verena sie in allzu bedenkliche Situationen manövrierte. Doch ließ er sie jetzt auch ihre Fehler machen, damit sie lernen konnte, sie künftig zu vermeiden. Einige dieser praktischen Lektionen waren schmerzhaft und beängstigend, die meisten bedeuteten größere Strapazen oder waren zumindest eklig. So durchlitt Verena Todesangst, als sie unvermittelt von einer mittelgroßen Würgeschlange in den Oberarm gebissen wurde und das für sie riesige Reptil sie binnen eines Atemzuges eingeschlungen hatte. Sofort war sie unfähig, noch einmal einzuatmen, und konnte nur feststellen, dass sie keinerlei Chance mehr hatte, sich aus eigener Kraft zu befreien. Das Tier zog seine Windungen in beängstigender Geschwindigkeit enger und der zunehmende Druckschmerz machte ihr klar, dass in wenigen Augenblicken ihr Unterarm brechen würde.
Barwarin, der natürlich alles vorausgesehen hatte, griff erst jetzt in das Geschehen ein, indem er die Schlange vom Schwanz her abwickelte und schließlich den Rachen des Tieres noch weiter über Verenas Arm schob, sodass sich die nach hinten gerichteten Zähne lösen ließen. Eine lange Rast später, hatte Verena sich endlich weit genug von ihrer Todesangst erholt. Barwarin erklärte ihr in aller Ruhe, welche Anzeichen für die Anwesenheit mittelgroßer Würgeschlangen sie alle missachtet hätte und wie sie sich nach einem Biss noch vor der tödlichen Umklammerung hätte schützen können.
Häufiger kam es vor, dass Barwarin zuließ, dass Verena sie beide an eine Stelle in den Wipfeln oder in den Lichthöhlen führte, die sich als Sackgasse erwies. Das hätte man vorausahnen können, wenn man die Art der Bäume, die Steigung des Untergrundes sowie einige weitere Faktoren gründlicher interpretiert hätte. Wenn sie endlich einsah, dass es nichtmehr weiterging, war eine enorme Anstrengung nötig, zu einem geeigneteren
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