Der Mondscheingarten
durch das raschelnde Laub das Weite.
Doch vom Wächter war nichts zu sehen.
»Was, wenn er heute nicht hier ist?«
»Dann kann er uns nicht stören«, entgegnete der Zahnarzt, während er sich umsah.
Angesichts der schlechten Sicherheitsvorkehrungen wunderte sich Lilly, dass dieses Haus noch nicht vollkommen geplündert worden war. Natürlich würden sich im Innern keine brauchbaren Möbel mehr befinden, doch auch die Steine, aus denen es erbaut war, hatten durchaus ihren Wert und konnten gut weiterverkauft werden.
Als sie sich dem Haus näherten, tauchte plötzlich der Wächter zwischen dem Grün auf und rief ihnen etwas zu. Verheugen verstand es und antwortete, worauf sich die angespannte Miene des Wächters gleich beruhigte.
»Will er nicht, dass wir uns hier umsehen?«, fragte Lilly, als das Gespräch beendet war und der Wächter die Freitreppe des Hauses erklomm.
»Er hat gefragt, was wir hier wollen. Ich habe ihm den Namen unserer Freundin aus dem Museum genannt, und schon wurde er lammfromm. Er will uns das Haus aufschließen, lehnt es aber ab, eine Führung zu machen.«
»Die brauchen wir wohl auch nicht, oder?«
»Das Einzige, was wir in diesem Haus brauchen, sind gute Ohren und Finderglück.«
»Warum gute Ohren?«
»Weil ich mir nicht sicher bin, wie gut die Fußböden da drin noch sind.«
»Also kaputte Decken und kaputte Böden. Vielleicht sollten wir durch die Tür schweben.«
»Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie das irgendwie hinbekommen haben«, entgegnete Verheugen und lachte.
Der Wächter schloss die große Haustür auf, durch die früher wohl die Gäste geströmt waren. Ein muffiger Geruch nach alten Blättern, Sand und Feuchtigkeit schlug ihnen entgegen. Da die Fenster mit Brettern mehr schlecht als recht vernagelt waren, fiel diffuses Licht auf das Parkett, das unter der dicken Schmutzschicht kaum noch zu erkennen war. Erkennen konnte man allerdings, welchen Weg der Verwalter öfter durchs Haus nahm. Der gut ausgetretene Pfad, unter dem das Parkett glänzte, als sei es tatsächlich mal gereinigt worden, führte direkt zu einer kleinen Tür, hinter der Lilly eine Toilette vermutete.
Doch sie schlugen einen anderen Weg ein. Der Wächter hatte Verheugen erklärt, dass sich die Kisten mit den Dokumenten in der Bibliothek befanden, die im hinteren Teil des Hauses lag.
Nachdem sie die Halle durchschritten hatten, aus der das Licht eine lange Freitreppe hervorzerrte, erreichten sie den Ballsaal, dessen einstiger Glanz nur noch schwach zu erahnen war. Lilly erinnerte sich an die Bilder in der Zeitung und meinte, die feine Festgesellschaft, vor der Rose gespielt hatte, förmlich vor ihrem geistigen Auge zu sehen. All die Seidenroben der Damen, die vielleicht Edelsteine oder Federn im Haar trugen. 1902 war der Charleston noch nicht erfunden, und gewiss hatten da viele Frauen noch ein Korsett getragen. Und die Vatermörderkragen und Fracks der Männer, die sich hier trafen, um Geschäftsbeziehungen zu knüpfen oder die Konkurrenz im Auge zu behalten.
Dazwischen stand Rose mit ihrer wallenden Lockenpracht und der ungewöhnlichen Geige. Wieder fragte Lilly sich, ob sie Paul Havenden bereits hier kennengelernt hatte … Wenn er beim Gouverneur zu Gast gewesen war, konnte er das Konzert gehört und Rose gesehen haben. Hatten sie sich hier ineinander verliebt?
Lilly suchte nach dem Fenster, durch das man die Terrasse aufgenommen hatte, aber wegen der Bretter konnte sie es nicht bestimmen.
»Ich glaube, ich weiß, wo die Bibliothek ist«, sagte Verheugen plötzlich. Offenbar hatte er die Zeit, in der sie sich gedankenvoll umgesehen hatte, genutzt, um den Standort der Kisten ausfindig zu machen. »Kommen Sie.«
Lilly riss sich vom Anblick der hohen Fenster und der Schnitzereien an den Deckenbalken des Festsaals los und folgte ihm.
Wie immer, wenn sie mit alten Einrichtungsgegenständen oder Häusern zu tun hatte, erwachte die Antiquitätenhändlerin in ihr, doch diesmal bekam sie keine Nahrung. Hier hatte niemand einen wertvollen Intarsienschrank vergessen, hier stand kein Sekretär, dessen Schubladen voller alter Liebesbriefe waren. Das Haus hatte sein Innenleben schon lange verloren, nur Schatten an Wänden und auf dem Boden deuteten auf Bilder, Möbelstücke und Teppiche hin.
Und dennoch … hatte dieses Haus etwas ganz Besonderes an sich. Manche alten Häuser, die dem Verfall preisgegeben wurden, wirkten so düster, als seien sie frustriert darüber, dass man sie vergessen hatte. Dieses
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