Der Mondscheingarten
zurückgegeben, wieder Geige zu spielen, doch ihr Lebensmut war gewachsen. Wieder und wieder war sie das Gespräch mit der alten Frau durchgegangen, und allmählich hatte sich ein Wunsch herauskristallisiert: Ich muss etwas über meine Mutter herausfinden!
Die Fragen, die ganz offensichtlich auf der Hand lagen, hätten sie entmutigen können, doch in ihrem Innern spürte sie plötzlich eine Kraft, die sie bisher nicht gekannt hatte. Ich darf nicht aufgeben!
Aber vielleicht konnte sie ganz neu anfangen. Vielleicht war der Abstand zu London nicht das Schlechteste, das ihr passieren könnte.
Nach Hause, dachte sie. Sumatra ist weitab von allem. Es ist meine Heimat, es war die Heimat meiner Mutter. Und meiner Ahnen. Sobald ich Gelegenheit dazu habe, werde ich dorthin zurückkehren.
30
London 2011
Die Frühlingssonne brannte auf ihrer Haut, als Lilly den Kieselweg zu Ellens Haus hinaufging. Zwar war diese Wärme nicht zu vergleichen mit der, die Lilly auf Sumatra erlebt hatte, doch sie schien für europäische Verhältnisse schon recht ordentlich.
Am Haus angekommen, suchte sie vergeblich nach dem Gärtner – und das, obwohl aus den Beeten neben dem Weg bereits Schneeglöckchen und Krokusse ihre Köpfe reckten. War Rufus krank, oder hatte sie ihn nur verpasst?
Daran, dass Ellens Wagen vor der Tür stand, erkannte sie, dass ihre Freundin kurz vor ihr angekommen sein musste. Sie hatte extra darauf verzichtet, sie über ihre genaue Ankunftszeit zu unterrichten, weil sie sie nicht aus ihrer Arbeit fortreißen wollte. Aber offenbar schien sie den sechsten Sinn zu besitzen.
»Wenn das nicht unsere Reisende ist!«
Lilly erschrak, als Ellen neben ihr auftauchte. Ihre Hände steckten in Gartenhandschuhen und hielten einen Strauß Birkenzweige, die sie wohl als Zierde für einen Blumenstrauß brauchte.
Die beiden Frauen fielen sich in die Arme. »Wie schön, dich zu sehen! Du hast mir in dieser Woche einfach unglaublich gefehlt!«
»Und du mir erst! Du hättest mitkommen sollen, ich habe so viel herausgefunden.«
»Na, dann komm mal rein und erzähl, ich bin schon sehr gespannt!«
Im Wohnzimmer, bei Tee und Gebäck, berichtete Lilly ausführlich über alles, was sie in Indonesien erlebt hatte. Und auch, was sie über Rose und Helen herausgefunden hatte. Das Tagebuch und die Kopien lagen auf dem Tisch und verströmten eine seltsame Energie, als brannten sie nur darauf, endlich in Gabriels Hände zu gelangen und so auch wieder zu Rose und Helen zurückzukehren, selbst wenn die in der Music School nicht viel mehr als Schatten der Vergangenheit waren.
»Die beiden waren Mutter und Tochter …« Ellen schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich verstehe nicht, wie eine Mutter es über sich bringen kann, ihr Kind wegzugeben.«
»Das waren andere Zeiten damals«, erklärte Lilly, obwohl sie wusste, dass sie es ebenfalls nicht übers Herz bringen würde. »Die einzige wirkliche Rettung vor dem Skandal wäre gewesen, zu ihrer Mutter nach Magek zu gehen. Aber davor hatte Rose Angst. Sie hatte Angst, ihre Selbstbestimmung zu verlieren, und hat dafür dann einen hohen Preis gezahlt.«
Ellen schwieg nachdenklich, dann sagte sie: »Ich bin echt froh, heute zu leben. In einer Zeit, in der sich eine Frau nicht mehr zwischen Familie und Karriere entscheiden muss.«
»Da hast du recht«, pflichtete Lilly ihr bei und versank einen Moment lang in Gedanken. Wie wäre es Rose in meiner Situation gegangen? Hätte sie sich noch einmal verlieben können, wenn Paul gestorben wäre? Paul hatte sie sitzengelassen, und sie hatte wahrscheinlich entgegen dem, was sie geschrieben hatte, bis zu ihrem Lebensende doch eine winzig kleine Hoffnung, ihn noch mal wiederzusehen. Wohingegen ich Peter für immer verloren habe. Rose konnte ihr Herz nicht mehr öffnen, aber ich kann es.
»Auf jeden Fall hat ihr das Erdbeben wahrscheinlich eine lange Leidenszeit erspart«, meinte Ellen traurig, als sie nach der Kopie der Todesanzeige griff. »Kein Wunder, dass man sie für verschollen hielt. Die Historiker hätten sich ohne das Wissen, dass sie verheiratet war, schwarz suchen können.«
»So ist es! Und ich bin so froh, dass dieser lebhafte Holländer mir geholfen hat. Ich hatte schon gedacht, der will was von mir, aber nein, er hatte seine Liebe schon gefunden.« Lilly ordnete ihre Gedanken kurz, dann fragte sie: »Haben wir schon Post aus Italien?«
Ellen schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Ich habe Enrico an dem Tag, als du losgeflogen bist,
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