Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist
depressiven Anfälle frönte, könnte ein Monat vergehen, ehe er merkte, dass ich gegangen war. Wie der geplagte Sklave, der auf den Baumwollfeldern der alten Südstaaten schwer arbeitete, machte ich mir keine Gedanken darüber, wo ich hingehen würde oder wie ich dorthin käme oder was ich tun würde, wenn ich erst einmal da wäre. Diese Sachen schienen bloß Belanglosigkeiten zu sein. Der entscheidende Punkt bei der Freiheit ist schließlich die Freiheit selbst.
Im Lauf der Jahre habe ich mich oft gefragt, wieso ich nie weggelaufen bin. Was band mich an ihn über die Trägheit hinaus, für die alle Menschen anfällig sind? Blutsbande waren es nicht. Eidlich war ich auch nicht verpflichtet. Auch nicht von Gesetzes wegen. Und trotzdem, jedes Mal, wenn der Gedanke an Flucht durch mein Bewusstsein flatterte, war er so kurzlebig wie ein Phantom, ein Irrlicht, ein schwer fassbares Leuchten über dem Sumpfland meiner Psyche. Den Doktor zu verlassen war nicht undenkbar – ich gebe zu, dass ich oft daran gedacht habe –, aber von ihm fort zu sein war es. War es Furcht, die mich an seiner Seite hielt, Furcht vor dem Unbekannten, Furcht davor, mir selbst überlassen zu sein, Furcht davor, dass mir ein viel erschreckenderes Schicksal widerfahren könnte als die Stellung bei einem Monstrumologen? War es so, dass etwas unerfreuliches Bekanntes jedem unvorhersagbaren Unbekannten vorzuziehen ist?
Vielleicht lag es zum Teil daran; vielleicht war es zum Teil Furcht, aber nicht ausschließlich. Während der ersten elf Jahre meines Lebens war ich Zeuge der Wertschätzung – nein, der tiefen und vollkommenen Ehrfurcht – gewesen, die mein Vater ihm entgegengebracht hatte. Lange bevor ich Pellinore Warthrop in Person kennengelernt hatte, war ich ihm zahllose Male im Geiste begegnet, einem gewaltigen Genie, dem meine Familie alles verdankte, eine schemenhafte Präsenz, unter deren langen Schatten wir lebten. Dr. Warthrop ist ein großer Mann, der sich mit großen Angelegenheiten beschäftigt, und ich werde mich nie von ihm abkehren … Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass mein Vater ihn mit einer Innigkeit liebte, die an Götzenverehrung grenzte, ebenso wie es nicht übertrieben ist zu behaupten, dass ebendiese Liebe ihn letzten Endes dazu führte, das höchste Opfer zu bringen: Mein Vater starb für Pellinore Warthrop. Seine Liebe zum Doktor kostete meinen Vater das Leben.
Vielleicht war es ja Liebe, die mich festhielt. Nicht Liebe zum Doktor selbstverständlich, sondern Liebe zu meinem Vater. Indem ich blieb, ehrte ich sein Andenken. Fortzugehen hätte seinen am meisten hochgehaltenen Glauben herabgewürdigt, die eine Sache, die den Dienst für den Monstrumologen – und den schrecklichen Preis, den dieser Dienst forderte – erträglich machte: der Gedanke, dass Warthrop mit »großen Angelegenheiten« befasst war und dass sein Assistent zu sein bedeutete, selbst auch Teil dieser Größe zu sein; dass tatsächlich ohne einen selbst seine »Angelegenheiten« nicht einmal dieses hohe Niveau erreicht hätten. Wegzulaufen wäre das stillschweigende Eingeständnis gewesen, dass mein Vater umsonst gestorben war.
»Na du meine Güte, nun sieh mal einer an, wer da ist!«, rief Flanagan und eilte auf das Klingeln der Glocke hin zur Tür. »Alte, komm und schau dir an, was uns der Wind ins Haus geweht hat!«
»Ich habe zu tun , Mr. Flanagan!«, rief seine Frau nörglerisch aus dem Hinterzimmer. »Wer ist es?«
Der pausbäckige Lieferant von Obst und Gemüse ließ die Hände auf meine Schultern sinken und schaute mir mit funkelnden grünen Augen ins nach oben gerichtete Gesicht. Er roch nach Zimt und Vanille.
»Der kleine Will Henry!«, rief er über die Schulter. »Du liebe Mutter Maria, ich glaube, dich habe ich seit einem Monat nicht mehr gesehen!«, richtete er sich an meine Adresse, und seine cherubinischen Züge leuchteten vor Freude. »Wie ist es dir ergangen, Jungchen?«
»Wer?«, brüllte Mrs. Flanagan aus dem Hintergrund.
Flanagan zwinkerte mir zu und drehte sich um, um zu rufen: »Der Hausherr der Harrington Lane 425!«
»Harrington Lane!«, rief sie zurück und erschien augenblicklich in der Tür, ein schweres Tranchiermesser in der gewaltigen, roten knöchrigen Hand. Mrs. Flanagan war gut und gern doppelt so groß wie ihr Mann und dreimal so stimmgewaltig. Als sie sprach, klirrten die Fensterscheiben in ihren Rahmen.
»Ach, Mr. Flanagan!«, dröhnte sie, als sie mich sah. »Es ist ja nur Will
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