Der Morgen der Trunkenheit
»Um so besser, dann eß ich es selbst.«
Ihr Verhalten stieß mich ab. Es war an der Zeit auszusprechen, was mir schon lange auf der Zunge lag. Genug der Anspielungen und Andeutungen. Das Problem verlangte nach einer Lösung. Ich sagte, »Rahim Jan, hast du dich endlich entschieden?«
Verwundert fragte er, während er sich gerade einen Happen in den Mund schob, »Wie entschieden? Wofür?«
Ich fragte, »Geht es dir denn geschäftlich nicht gut? Bist du mit deinem Laden nicht zufrieden?«
»Doch, weshalb denn?«
»Nun, es war doch abgemacht, daß du dir einen Lehrling nimmst. Es war abgemacht, daß du zum Militär gehst. Willst du nicht hingehen und dich erkundigen?«
Er sagte, während er genußvoll an dem Happen kaute, »Hm, ja, ich werde hingehen. Eines Tages werde ich hingehen.«
Seine Mutter lächelte höhnisch. Ich blieb beharrlich, »Wann wird dieser Tag sein, Rahim? Es ist an der Zeit. Du mußt hingehen, solange du jung bist. Es heißt, daß man studieren müßte. Also, weshalb rührst du dich nicht?«
Er sagte, »Läßt du mich diesen einen Bissen essen oder willst du mir den Appetit verderben, Mahbube?«
Seine Mutter stand gesättigt auf, setzte sich an den Samowar und goß mit fettigen Händen Tee ein. Um das Thema zu wechseln, sagte sie, »Laß es gut sein, Mahbube Jan. Wo du schon kein Kalleh-Patcheh gegessen hast, trink wenigstens einen Tee.«
Zornig erwiderte ich, »Ich mag nicht.«
Ich stand auf, ging in unser Schlafzimmer und schlug die Tür zwischen beiden Zimmern kräftig zu. Ich hörte meine Schwiegermutter, die harmlos, aber so laut, daß ich es hören konnte, fragte, »Pah! Was hat die denn? Warum führt die sich so auf?«
Rahim sagte, »Laß sie in Ruhe, Nanneh. Gieß den Tee ein. Wahrscheinlich hat sie sich über etwas anderes geärgert.«
Ich hörte, wie er den Tee schlürfte. Meine Schwiegermutter sagte, »Sie ärgert sich über etwas anderes und läßt es an mir aus.«
Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. Wieder tuschelte sie ihm etwas ins Ohr und brachte ihn gegen mich auf. Plötzlich flog dieZimmertür auf, und ein Türflügel knallte gegen die Wand. Ich sah seine Mutter, die ruhig am Samowar saß und deren Augen siegessicher funkelten. Rahim trug ein weißes Hemd samt Hose und Weste. Er wollte nach dem Frühstück außer Haus gehen. Wohin? Ich wußte es nicht. Sein Jackett hing an einem Nagel an der Wand des Schlafzimmers. Zunächst dachte ich, er sei gekommen, um sein Jackett zu holen. Wie üblich waren Hemdkragen- und Manschettenknöpfe geöffnet. Ich warf einen Blick auf das Jackett. Und dann auf ihn. Ich stand neben dem Fenster. Wütend fragte er, »Was ist mit dir los?«
Ruhig drehte ich mich um. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn an. Fettige Hände, offenstehender Hemdkragen, unordentlich, mit wirrem Haar und zornig. Ich blieb still.
»Weshalb hast du nichts gegessen?«
»Ich wollte nicht.«
»Wolltest du nicht oder warst du dir dafür zu schade? Was sind das für Mätzchen, die du veranstaltest? Darf man das vielleicht wissen?«
Ich sagte, »Begreifst du denn nicht? Begreifst du nicht, daß ich müde bin? Daß das kein Leben ist? Daß das Leben nicht nur Kalleh-Patcheh essen und Schlafen bedeutet? Daß dein Leben vergeht und du müßig herumsitzt? Willst du dir nicht eine anständige Arbeit suchen? Denkst du nicht an dieses Kind? Wer soll es erziehen? Bist du mit diesem armseligen Leben zufrieden?…« Mit der Hand zeigte ich auf Zimmer und Hof.
Er griff mit der Rechten an den Türrahmen. Ich sagte mir, jetzt wird die Tür fettig. Er brüllte, »Weshalb läßt du einen nicht im eigenen Haus in Ruhe leben? Was verlangst du von mir? Weshalb suchst du nach Ausflüchten? Muß denn ein einjähriges Kind erzogen werden? Braucht es einen Lehrer? Ich versteh ja nicht, was du sagst. Rede richtig, damit ich verstehen kann, was in dir vorgeht. Ich bin das, was ich bin. Hast du denn nicht von Anfang an Bescheid gewußt? Bin ich dir etwa nachgelaufen, ja? Du bist gekommen, hast mich gesehen, und es hat dir gefallen.«
Mein Sohn hatte aus Angst vor seinem Gebrüll zu weinen begonnen. Rahim schlug sich mit der Hand auf seine nackte Brust, »Du bist meine Frau geworden, meine, des Schreiners Rahim. Was verlangst du von mir? Am Anfang war an mir alles gut. Mein offener Hemdkragen, meine rauhen Hände, mein wirres Haar, meinUmhang, mein langes Filzhemd, meine Stoffschuhe. Wie kommt es, daß jetzt plötzlich alles an mir schlecht ist? War ich nicht
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