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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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mit ihr. Den Rahmen versteckte ich nicht unter dem Tschador. Sollten die Passanten ihn doch sehen! Er maß nicht mehr als zehn mal zwanzig Zentimeter. Ich hatte meine Zunge nicht mehr in der Gewalt: »Wenn Sie mittags nicht nach Hause gehen, wird Ihre Frau da nicht unruhig?«
    »Ich habe keine Frau.«
    »Und Sie haben auch auf niemanden ein Auge geworfen?«
    »Doch!«
    Wieder blieb mir das Herz stehen. ›Na, Mädchen, bist du nun zufrieden?Dieser Mann ist im Begriff zu heiraten, und dann erniedrigst du, die Tochter von Bassir ol-Molk, dich so?‹ Wieder sprach meine unbeherrschte Zunge: »Möge es wohl ergehen, wer ist es denn?«
    Insgeheim sagte ich zu mir: ›Mädchen, was geht dich denn das an? Tochter des von Soundso, was betrifft es dich, wer die Verlobte des Schreinerlehrlings aus deinem Viertel ist?‹
    Er antwortete: »Die Enkelin der Tante meiner Mutter.«
    Plötzlich tat er mir sehr leid. Er hatte diesen Satz in einem demütigen und bedrückten Ton ausgesprochen. Als ob er sich in sein Schicksal gefügt hätte, darein, was ihm vorbestimmt war.
    »Ich wünsche Ihnen Glück«, sagte ich, »dann werden wir wohl demnächst den Hochzeitskuchen zu essen bekommen?«
    Er ließ den Kopf sinken. Wieder fielen ihm seine ungezähmten Haare in die Stirn. Dann hob er den Kopf: »Für meine Mutter ist es ein Glück, ich mag ja nicht. Ach, würden Sie doch meine Trauerspeise essen.«
    Ich lachte: »Gott behüte.«
    Er verstummte. Nun reichte es aber. Wie lange noch sollte ich auf Zeit spielen? Ich fragte: »Was schulde ich Ihnen?«
    »Wofür?«
    »Für den Rahmen.«
    Mit gekränktem Stolz sagte er so, daß keine Widerrede möglich war: »Solch eine Krämerseele bin ich dann doch nicht.«
    »Aber…«
    »Kein Aber. Schließlich und endlich bin ich ein Geschäftsmann Ihres Viertels.«
    Er hob zwei Holzstückchen vom Tisch auf und sagte: »Was können denn zwei so kleine Holzstücke schon wert sein, daß Sie von Bezahlung reden? Möge es ein Erinnerungsstück von mir sein. Nehmen Sie es an.«
    »Ich bitte Sie. Sein Besitzer ist es wert. Ich danke Ihnen.«
    Unwillkürlich hob ich die Hand, schlug den Gesichtsschleier hoch und starrte ihm in die Augen. Stumm und überwältigt stand er da wie eine Statue, rot bis über beide Ohren, und murmelte: »Gepriesen sei Allahs gelungene Schöpfung!«
    Nicht etwa, daß er leise sprechen wollte, nein. Es war die Stimme, die ihm versagte. Ich drehte mich um, ohne Abschied. Und diesmalrannte ich nicht, sondern entfernte mich ganz langsam, mit ruhigen, abgemessenen Schritten. Die Frühlingsluft tobte. Ich wußte, daß er mich von hinten musterte. Wie einen Pfeil spürte ich seinen Blick mich vom Scheitel bis zu den Sohlen durchbohren und ging weiter. Ruhig weiter. Mit wiegenden Schritten ging ich weiter und verfluchte mich insgeheim. Ich phantasierte. »Möge Gott dich erwürgen, Mädchen. Asche auf dein unwertes Haupt. Du unnütze, schamlose Person… Wai, wie wundervoll der Geruch von abgehobeltem Holz doch war, und ich wußte es nicht… Mögen dich alle beweinen, bei Gott. Sieh doch, was für eine Schande du über sie bringst! Was denn, um Himmels willen, ist an diesem armseligen Schreinerlehrling, das ihn so begehrenswert erscheinen läßt? Seine wilde Mähne, sein schlanker Hals oder seine mächtige Brust? Oder sein wuchtiger Unterarm, der aus dem Kattunärmel herausschaute? Ach, wärest du doch schon tot. Würde ich doch sterben und erlöst werden. Würde er doch sterben, und ich wäre erlöst…« Wer sollte denn sterben? Wer sollte sterben, damit ich erlöst wäre? Damit ich frei wäre. Wenn ich es bis gestern nacht nicht gewußt hatte, so wußte ich es jetzt ganz genau. O Gott, würde doch Ata od-Doules Sohn sterben, damit ich frei wäre.
    »Ja, so unerfahren war ich. So kindisch. Und so aufgewühlt, daß du es dir nicht vorstellen kannst. Was du hier siehst, ist genau dieser Rahmen.«
    Tantchen zog den Rahmen aus dem Gerümpel in der Truhe heraus und reichte ihn Sudabeh. Er war alt und nachgedunkelt. Von Tantchens Küssen, ihren Tränen, vom Lauf der Zeit. Aber es schien, als ob der Zauber, der in ihm ruhte, Sudabehs Fingerspitzen noch immer verbrennen, oder als ob sie, versunken in seinen Winkeln und Kanten, das junge und verliebte Antlitz des Schreiners mit seiner verwehten zigeunerhaften Mähne vor sich sehen könnte.
    Am Donnerstag herrschte geschäftiges Treiben in Nozhats Haus. Zur Dämmerstunde hatte Nassir Chan einige seiner Freunde eingeladen. Es war eine

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