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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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Droschke meiner Schwester zurückkehren. Und wenn die nicht da sein sollte, komme ich mit einer ihrer Bediensteten.«
    Kraftlos erwiderte meine Mutter: »Ich weiß wirklich nicht. Mach, was du willst. Hoffentlich merkt dein Vater nichts davon.« Sie streckte sich aus und schlief ein.
    Ich verließ das Haus. Die Frühlingssonne war warm und angenehm. Die Gasse lag verlassen da. Nichts rührte sich.
    Ich wußte, daß im Basar die Arbeit ruhte, auch die nächsten ein, zwei Stunden würden die Läden noch geschlossen bleiben. Bis zur Schreinerei waren es nur noch ein paar Schritte. Es genügte, wenn ich abbog, um den Laden zu sehen, am Eingang des Basars. Aber das Geräusch des Hobels war nicht zu hören.
    Plötzlich erstarb die ganze Freude auf das Wiedersehen mit meiner Schwester in mir. Ich sehnte mich danach, ihn zu sehen. Wie er sich über die Bretter beugte, beschäftigt mit seiner Arbeit. Aber überall war es still.
    An der Straßenecke bog ich ab. Kaum war ich zwei Schritte weitergegangen, fuhr ich erschrocken zusammen.
    »Guten Tag, kleines Fräulein.«
    Er sprang von einem Stapel Bretter, die im hinteren Teil des Ladens aufgeschichtet waren, herab. Bekleidet mit der üblichen Hose aus schwarzem Serge und dem langen weißen Hemd, das ihm bis an die Knie reichte. Die Ärmel hatte er bis an die Ellenbogen hochgerollt, und sein Hemdkragen stand offen. Sofort mußte ich an den Vers denken: »Keiner nähte ein Hemd, das nicht zur Robe wurde.«
    Er tat drei große Schritte vorwärts und gelangte bis in die Mitte des Ladens. Dort lehnte er sich an einen Holztisch, auf dem seine Werkzeuge lagen, und blieb stehen. Genau dort, wo er die Bretter abhobelte und die Balken zersägte. Dort, wo er Arbeiten verrichtete, von denen ich nichts verstand. Ich wußte nur, daß man es Schreinern nannte.
    Sein Haar, das ihm vorn in Locken auf die Stirn fiel, reichte hinten bis über die Ohren. Als ob er zu den Derwischen gehörte. Seine Arme waren bis zu den Ellenbogen sichtbar. Hervorstehende blaue Adern liefen unter der dunklen Haut an seinen kräftigen Muskeln entlang.
    Wieder meldete er sich: »Ich hatte übrigens Guten Tag gesagt.«
    Unwillkürlich blickte ich nach links und rechts. Da war niemand.
    »Guten Tag. Machen Sie mittags keine Pause?«
    »Nicht, wenn ich warte.«
    »Warten Sie denn?«
    »Jawohl.«
    »Auf wen denn?«
    »Auf Sie.«
    Wieder blieb mir das Herz stehen. Wieder fing es mühsam in meiner Brust zu schlagen an. Gott sei Dank trug ich einen Gesichtsschleier, so daß er mein Gesicht, das wahrscheinlich puterrot geworden war, nicht sehen konnte. Zu mir selbst sagte ich: »War es das, was du wolltest? Die Antwort kanntest du von vornherein und hast trotzdem gefragt. Merkst du denn nicht, wie weit er sich überseine Grenzen hinausgewagt hat? Wann willst du ihn endlich in seine Schranken verweisen?« Dennoch fragte ich erneut mit leiser Stimme: »Hatten Sie mit mir zu tun?«
    »Waren Sie es denn nicht, die einen Rahmen wünschten? Nun, den habe ich für Sie angefertigt.«
    Er nahm einen kleinen Rahmen vom Tisch auf und streckte ihn mir entgegen. Na, Gott sei Dank, er hegte also keine bösen Absichten. Er hatte ohne Hintergedanken gegrüßt. War nur am Geschäft interessiert. Mein Herzschlag beruhigte sich. Trotz alledem mußte ich morgen meinen Tschador wechseln. Anscheinend hatte er ihn sich gemerkt, hatte mich daran erkannt. An meinem schwarzen, gesäumten Taft-Tschador.
    »Aber ich hatte doch keine Maße angegeben«, sagte ich.
    »Nun ja, Sie hatten etwas verlangt, und da habe ich halt irgend etwas angefertigt. Wenn er Ihnen nicht gefällt, können Sie ihn ja hinwerfen und unter ihren Füßen zertreten. Dann stelle ich einen anderen her. Seit über einer Woche warte ich mittags hier auf Sie.«
    Er kam noch zwei Schritte vor und streckte mir den Rahmen entgegen. Ich nahm ihn. Ich wollte nicht, daß meine Hand die seine berührte, aber es geschah. Sein Daumen und sein Zeigefinger strichen über meinen Handrücken, als er ihn mir aushändigte. Sie waren rauh und grob und erschienen mir sehr männlich. Durch seine Bewegung breitete sich der Duft des Holzes aus. Bis dahin hatte ich nicht gewußt, wie fein es duftete. Die Hobelspäne raschelten unter seinen Füßen wie das Laub der Bäume im Herbst. Wai, wie war es möglich, daß der Duft des Holzes einen so berauschte?
    Auf der Gasse war niemand. Und selbst wenn, was hatte ich zu befürchten? Ich war im Begriff, einen Rahmen für meine Schwester zu kaufen, zur Versöhnung

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