Der multiple Roman (German Edition)
meiner Liebe zu allem Einzigartigen. Ich fürchte beispielsweise, obwohl ich Andy Warhol sehr schätze, einen Satz von ihm, den er in einem Interview von 1963 sagte: »Ich finde, jeder sollte jeden mögen.« [814] Das entspricht nicht, nein überhaupt nicht, meiner Utopie – diese völlige Gleichmacherei. Und so bin ich geneigt, Aragons Geschichte über die Geschichte und Bedeutung der Collage zu misstrauen. Denn Picassos Collagen blieben stattdessen immer schonungslos stofflich: Jede seiner Collagen ist hinreißend einzigartig.
Wenn ich mir also einen zukünftigen Roman als Collage vorzustellen versuche, bedeutet dies nicht, dass dieser Roman rein abstrakt werden würde. Ein Wort ist schließlich immer eine Bedeutung. Aber die Anordnungen und Nebeneinanderstellungen in einer Komposition können bewirken, dass Wörter auf eine Weise eingesetzt werden, die ihnen zwar diese Bedeutung nicht nimmt, sie aber aus einem etwas anderen Blickwinkel zeigt. Es ist sicherlich ein kleiner Fortschritt, aber vielleicht sind alle Fortschritte winzig. Im Fahrwasser der Komposition entdeckten der Schriftsteller und der Leser und der Übersetzer dann die in ihr enthaltenen Wahrheiten. Oder mit anderen Worten die Wahrheiten des multiplen Romans.
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Und seine Grundwahrheit ist ganz Auflösung: Das Selbst des Schriftstellers in einem Roman ist eine verletzliche Doppeldeutigkeit. Genauso verletzlich und doppeldeutig wie das Selbst seines internationalen Lesers.
»Wir beobachten«, schrieb Wittgenstein in einem seiner Notizbücher, »dass wir die Ausdrücke ›wirklich‹, ›so tun als ob‹, ›sterben‹ etc. auf eine besondere Weise benutzen, wenn wir über ein Theaterstück reden,
im normalen Leben
aber anders. Oder: die Kriterien für den Tod eines Menschen in einem Stück sind nicht die gleichen wie für einen
wirklichen
Tod. Aber ist es gerechtfertigt zu sagen, dass Lear am Ende des Stückes stirbt. Warum nicht?« [815] Mit dieser kleinen Notiz wollte Wittgenstein den herkömmlichen Kontrast zwischen Wirklichkeit und Fiktion entfesseln. Und diese Verwischung erstreckte sich sogar bis zum Selbst. So dass Wittgenstein in seinen
Philosophischen Untersuchungen
mit dem folgenden Gedankenexperiment aufwartete: »Freilich, wenn das Wasser im Topf kocht, so steigt der Dampf aus dem Topf und auch das Bild des Dampfes aus dem Bild des Topfes. Aber wie, wenn man sagen wollte, im Bild des Topfes müsse auch etwas kochen?« [816]
Der diagonale Weg in Richtung einer Wahrheit, der sich inmitten jener Nebeneinanderstellungen erhebt, die durch die Struktur eines Romans bedingt werden, bedeutet, dass kein Roman je reiner Selbstausdruck sein kann. Nein, die Wahrheit ist erschreckender und seltsamer. Sie ist immer eine systematisch auseinanderlaufende Überschneidung zweier Abfolgen: der Abfolge absoluter Geständnissse und der Abfolge der absoluten Ausflucht. Der Roman ist eine Form der Bauchrednerkunst, wo nur die einsame Puppe auf der Bühne ist.
Es mag sich skandalös anhören, dass ein persönlicher Stil überarbeitet und in aufwendiger Handarbeit hergestellt werden muss, dass Authentizität erfunden werden muss. So, wie es einem auch skandalös erscheinen mag, dass das Selbst mit literarischem Diebstahl, Vervielfältigungen und Entwendungen im Bunde ist: Aber all dies bedeutet nicht, dass das Selbst nicht gleichzeitig auch einzigartig ist. Das Selbst ist ganz es selbst, bleibt aber nicht von Fremdbefall verschont. Ja, ich weiß, ich weiß. Ich weiß, dass diese Doppeldeutigkeiten überall sind. Ich möchte sie nur noch einmal erwähnen, hier am Ende meines Projektes, da ich sie für den Schlüssel zu zwei scheinbar widersprüchlichen Konsequenzen für dieses Projekt der zukünftigen Multiples halte.
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Die erste Konsequenz ist folgende: Es ist nicht falsch, nein, überhaupt nicht, wenn ein Schriftsteller versucht, ein ganzes Werk zu schaffen, das im Prinzip aus Neubearbeitungen oder aus einer Auswahl von vorher bestehenden Werken besteht. Warum sollte es das sein? Der Schöpfungsakt ist schließlich ein Akt der Erhaltung: somit ist es auch ein schöpferischer Akt, seine eigenen Schöpfungen zu erhalten. Der ideale Umstand der Autorschaft liegt schließlich darin, die endgültige Macht darüber zu haben, welche Werke überleben sollen und in welchem Zustand. Dies ist der Grund dafür, dass Henry James sich seiner letzten großen Aufgabe annahm: der Planung seiner New York Edition, die zwischen 1907 und 1909 veröffentlicht wurde. [76]
Und
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