Der multiple Roman (German Edition)
Collage auseinandersetzen, nicht jetzt. Nein, ich möchte nur ein einziges Motiv verfolgen: das Verhältnis zwischen der Collage und dem Ready-made oder, mit anderen Worten, zwischen Picasso und Duchamp. Denn man muss verstehen, was eine Collage ist, um die Herstellung der zukünftigen Romane zu verstehen.
In seinem Aufsatz »La Peinture au défi« – dem Vorwort des Katalogs einer Ausstellung von Collagen in der Gallerie Goemans in Paris im März 1930 – argumentiert Louis Aragon, die Collage habe unsere Vorstellung davon geändert, was man in der Kunst unter dem Konzept der Urheberschaft verstehen kann, »indem sie uns einem Persönlichkeitstest unterzogen hat«. [811]
Die bedeutendsten Stufen dieses Tests: Duchamp, der die Mona Lisa mit einem Schnurrbart ausstattete und signierte; Cravan, der ein Urinal signierte; Picabia, der einen Tintenklecks signierte und ihm den Titel Sainte Vierge gab. Für mich sind dies logische Konsequenzen der ursprünglichen Geste der Collage. Jetzt steht man auf der einen Seite für die Verneinung der Technik, wie in der Collage, sowie auch für die der »technischen Persönlichkeiten«; der Maler, wenn wir ihn so überhaupt noch nennen können, ist nicht kraft einer mysteriösen physischen Beziehung, analog jener der Fortpflanzung, an seine Leinwand gebunden. [812]
Aragon zufolge waren die Collage und das Ready-made durch die Mechanisierung verbunden – durch die Ablehnung des Selbst oder der Einzigartigkeit. Und er fuhr mit einem Zitat aus Isidore Ducasses
Poésies
fort – dem zweiten großen Werk jenes Mannes, dessen anderes Werk unter dem Namen Comte de Lautréamont veröffentlicht wurde, die
Chants de Maldoror (Die Gesänge des Maldoror)
:
Wörter, die Böses ausdrücken, sind dazu bestimmt, eine utilitaristische Bedeutung anzunehmen. Vorstellungen verbessern sich. Die Wortbedeutung spielt bei diesem Prozess eine Rolle.
Nachahmungen sind notwendig. Der Fortschritt baut zu einem gewissen Grad auf sie. Sie beobachten die Wörter eines Autors genau, machen sich seine Ausdrucksweisen zunutze, entfernen falsche Ideen und ersetzen sie mit einer richtigen.
Um gut gemacht zu sein, muss eine Maxime nicht verbessert werden. Sie muss entwickelt werden.
»Meiner Meinung nach«, schrieb Aragon, »enthalten diese Sätze von Isidore Ducasse die vollständige Moral des Ausdrucks. Für jeden, die Moral der Collage …« [813]
Versuchen wir also, es so auszudrücken. Um 1912 arbeiteten Picasso und Braque an ihren kubistischen Collagen, und Duchamp gab die Malerei auf, um an seinem
Großen Glas
zu arbeiten – eine Arbeit, die in seiner Erfindung des Kunstobjektes als Ready-made fortdauerte: ein Gegenstand aus der Massenproduktion, der nur noch die Signatur des Künstlers benötigte. Und diese zwei Momente sind vielleicht nicht unverwandt. Zumindest war dies Aragons Argument. Collagen, dachte er, hatten etwas, das einen zu der Logik des Multiples führt: zu der Logik der fotomechanischen Herstellungsweise oder der des Ready-made, anders gesagt, zu der Logik der abstrakten Dinge – in Richtung der Automatisierung, der Dequalifizierung, der Serialisierung. Und vielleicht kann man Picassos frühe 3 -D-Modelle von Gitarren als Zusammenfassung hiervon ansehen, jene abgerissene Pappmodelle, die er von seinen eigenen Gitarrencollagen anfertigte. Sein Studio wurde einen Moment lang zu einer Fabrik für zukünftige Produktionen. Tatsächlich ähnelte es kurz der Fabrik Andy Warhols, wo dieser seine Serienbilder herstellte, seine Multiples. Denn das serienmäßig angefertigte Bild ist nichts weiter, als eine nach außen gestülpte Fassung des Ready-made. Bei beiden handelt es sich um mehrdeutige Formen – ein Fabrikat, das zu Kunst wird, beziehungsweise Kunst, die zum Fabrikat wird.
Dies war die Zukunft der Collage, so wie Aragon sie sich vorstellte. Ihre Zukunft war Lautréamont – dessen
Oeuvre
das ironischste ist, das je geschaffen wurde, wie es zwischen diesen zwei Werken balancierte, die sich gegenseitig aufhoben: eine Art Bozetto des idealen Romans. Oder, um ihn bei seinem anderen Namen zu nennen, Ducasse – dessen berühmtester Aphorismus besagte, dass die Lyrik ab sofort kollektiv angefertigt werden sollte, nicht nur von einer Person alleine.
Aber während mein Projekt auch ein Projekt der Vervielfältigung sein mag, ja, es mag auf ähnliche Weise von Wiederholungen und Überarbeitungen und Détournements besessen sein, ist diese Besessenheit nur eine Umkehrung
Weitere Kostenlose Bücher