Der mysterioese Zylinder
dunkel. Auf der Bühne geht es sehr laut zu, und Sie beobachten gespannt die aufregenden Geschehnisse des Stückes … Hat irgend jemand von Ihnen, vor allem von denjenigen, die auf den Eckplätzen sitzen, zu diesem Zeitpunkt irgend etwas Merkwürdiges, Ungewöhnliches oder Störendes um sich herum oder in seiner Nähe bemerkt?«
Er machte eine erwartungsvolle Pause. Man schüttelte verwirrt oder ängstlich die Köpfe. Niemand gab eine Antwort.
»Denken Sie genau nach«, knurrte der Inspektor. »Sie erinnern sich vielleicht, daß ich am Montag abend diesen Gang heruntergegangen bin und Sie in der gleichen Weise befragt habe. Natürlich will ich keine Unwahrheiten hören, und ich kann nicht gut erwarten, daß Sie mir jetzt etwas Sensationelles berichten, nachdem Sie sich Montag abend an nichts erinnern konnten. Aber wir sind in einer schlimmen Lage. Hier wurde ein Mann ermordet, und wir sind, offen gestanden, ratlos. Es ist einer der schwierigsten Fälle, mit dem wir es je zu tun gehabt haben! In einer solchen Situation, wo wir mit dem Rücken zur Wand stehen und einfach nicht weiter wissen – Sie sehen, ich bin genau so ehrlich, wie ich das von Ihnen erwarte –, muß ich mich an Sie als den Teil des Publikums wenden, der alleine am Montag abend in einer Position war, etwas Wichtiges wahrzunehmen, wenn es überhaupt etwas Wichtiges gab … Meiner Erfahrung nach passiert es recht häufig, daß jemand aus Nervosität oder Aufregung heraus wichtige Einzelheiten vergißt, an die man sich nach einigen Stunden, Tagen oder Wochen, in denen Normalität eingekehrt ist, wieder erinnert. Ich hoffe, daß etwas in der Art auch bei einem von Ihnen geschehen ist …«
Während der Inspektor diese bitteren Worte sprach, ging die Nervosität in gespannte Aufmerksamkeit über. Als er aufhörte zu reden, steckten die Anwesenden die Köpfe zusammen und flüsterten aufgeregt, schüttelten von Zeit zu Zeit die Köpfe und redeten hitzig mit leiser Stimme auf andere ein. Der Inspektor wartete geduldig. »Heben Sie Ihre Hand, wenn Sie mir etwas zu erzählen haben …«, sagte er. Eine Frau hob schüchtern ihre weiße Hand in die Höhe. »Ja, meine Dame?« rief Queen und zeigte mit dem Finger auf sie. »Erinnern Sie sich an etwas Ungewöhnliches?«
Eine verschrumpelte alte Dame stand verlegen auf und stotterte mit piepsiger Stimme. »Ich weiß nicht, ob das wichtig ist oder nicht, Sir«, sagte sie nervös. »Aber ich erinnere mich daran, daß irgendwann im zweiten Akt eine Frau – glaube ich – den Gang hinunter-und einige Sekunden später wieder heraufgegangen ist.«
»Wirklich? Das klingt interessant, gnädige Frau«, bemerkte der Inspektor. »Wissen Sie noch, wann das ungefähr war?«
»An die Uhrzeit kann ich mich nicht erinnern, Sir«, sagte sie mit schriller Stimme, »aber es war etwa zehn Minuten nach Beginn des Aktes.«
»Ich verstehe … Und können Sie sagen, wie diese Frau aussah? War sie jung oder alt? Was hatte sie an?«
Die alte Dame sah ihn gequält an. »Daran kann ich mich nicht genau erinnern, Sir«, stammelte sie. »Ich hab’ mich nicht weiter –«
Eine hohe helle Stimme unterbrach ihre Worte aus dem Hintergrund. Die Köpfe flogen herum. Madge O’Connell war aufgesprungen.
»Sie brauchen diese Show nicht wieder abzuziehen, Inspektor«, verkündete sie frech. »Die Dame sah mich den Gang herauf-und hinuntergehen. Das war, bevor ich – Sie wissen schon.« Sie zwinkerte dem Inspektor unverschämt zu.
Die Menschen schnappten nach Luft. Die alte Dame starrte in mitleiderregender Bestürzung erst auf die Platzanweiserin, dann auf den Inspektor und setzte sich schließlich wieder hin.
»Das ist nichts Neues mehr für mich«, sagte der Inspektor ruhig. »Nun, noch jemand?«
Niemand antwortete. Da ihm klar wurde, daß die Leute zu schüchtern sein könnten, um ihre Gedanken in aller Öffentlichkeit vorzutragen, begann Queen, die Reihen abzugehen und jede Person einzeln und in für andere unhörbarer Lautstärke zu befragen. Als er damit fertig war, kehrte er langsamen Schrittes zu seinem Ausgangspunkt zurück.
»Ich sehe ein, daß ich Ihnen, meine Damen und Herren, erlauben muß, in Ihre friedlichen Heimstätten zurückzukehren. Vielen Dank für Ihre Hilfe … Entlassen!«
Er schleuderte ihnen das letzte Wort entgegen. Sie starrten ihn verwirrt an, standen in flüsternden Gruppen von ihren Plätzen auf, nahmen ihre Mäntel und Hüte und begannen, unter Velies strengem Blick aus dem Theater zu marschieren. Hilda Orange, die in
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