Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Name Des Windes

Der Name Des Windes

Titel: Der Name Des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
Vom Netzwerk:
sehen. Ich riss mir ein paar Haare aus, kratzte etwasTeer von einer Dachnaht und klebte damit ein Haar an ein Blatt. Das wiederholte ich ein Dutzend Mal und warf die Blätter dann vom Dach in den Hof hinunter.
    Die Blätter flatterten in alle Himmelsrichtungen davon, und ich musste angesichts der Vorstellung lächeln, dass jemand versuchen würde, mich anhand von einem Dutzend widersprüchlichen Signalen aufzuspüren.
    Ich hatte mir diesen Hof ausgesucht, weil hier eigenartige Windverhältnisse herrschten. Das war mir erst kürzlich aufgefallen, als das erste Laub dieses Herbstes gefallen war. Die Blätter trudelten hier in chaotischen Mustern über das Kopfsteinpflaster, mal in die eine, mal in die andere Richtung, und es ließ sich nie vorhersagen, wo sie landen würden.
    Wenn man diese merkwürdigen Windverhältnisse erst einmal bemerkt hatte, fiel es schwer, sie zu ignorieren. Und von dort oben aus gesehen, hatten diese Wirbel eine geradezu hypnotische Wirkung. Sie bannten den Blick, wie dahinströmendes Wasser oder die Flammen eines Lagerfeuers.
    Als ich dem Schauspiel in dieser Nacht zusah, erschöpft und verwundet, wie ich war, wirkte es entspannend auf mich. Und je länger ich zuschaute, desto weniger chaotisch erschien es mir. Ja, ich begann das große Muster zu erahnen, nach dem sich der Wind auf diesem Hof bewegte. Es wirkte nur chaotisch, weil es so ungeheuer komplex war. Und es schien sich auch ständig zu ändern. Es war ein Muster, das aus sich ständig verändernden Mustern bestand. Es war –
    »So spät noch unterwegs?«, sagte eine leise Stimme hinter mir.
    Aus meinen Gedanken gerissen, spannte sich mein Körper an, bereit zur Flucht. Wie hatte jemand hier heraufkommen können, ohne dass ich es bemerkte?
    Es war Elodin. Meister Elodin. Er war nur mit einer Hose und einem offenen Hemd bekleidet. Er winkte mir zu und ließ sich dann im Schneidersitz auf der Dachkante nieder, so selbstverständlich, als würden wir uns in einer Schenke auf ein Bier treffen.
    Er sah hinab in den Hof. »Heute Nacht ist es besonders schön, nicht wahr?«
    Ich verschränkte die Arme vor der Brust, versuchte meinen nackten, blutigen Oberkörper zu verbergen. Erst da fiel mir auf, dass das Blut an meinen Händen bereits getrocknet war. Wie lange hatte ich denn dort reglos gesessen und dem Wind zugesehen?
    »Meister Elodin«, sagte ich und verstummte dann wieder. Ich hatte keine Ahnung, was ich in einer solchen Situation sagen sollte.
    »Bitte, wir sind doch hier unter uns. Nenn mich bei meinem Vornamen: Meister.« Er grinste und sah wieder in den Hof hinab.
    Hatte er denn nicht bemerkt, in was für einem Zustand ich mich befand? Oder war er nur höflich? Vielleicht … Ich schüttelte den Kopf. Bei ihm wäre es sinnlos gewesen, irgendwelche Mutmaßungen anzustellen, denn ich wusste nur zu gut, dass Elodin nicht mit normalen Maßstäben zu messen war.
    »Vor langer Zeit«, sagte er im Plauderton und ohne den Blick von dem Hof zu lösen, »als hier noch eine andere Sprache gesprochen wurde, hieß das hier Quoyan Hayel. Später nannte man es ›das Fragenhaus‹, und die Studenten machten sich einen Spaß daraus, Fragen auf kleine Zettel zu notieren und sie dann hier hin und her wehen zu lassen. Die Antwort auf so eine Frage erhielt man angeblich, indem man verfolgte, auf welchem Weg der Zettel den Platz verließ.« Er deutete auf die Straßen, die zwischen den grauen Gebäuden auf den Platz mündeten. »Ja. Nein. Vielleicht. Woanders. Bald.«
    Er zuckte die Achseln. »Aber das war alles ein Irrtum. Ein Übersetzungsfehler. Man glaubte, Quoyan sei eine Vorform von Quetentan  – Frage. Aber das stimmt nicht. Quoyan bedeutet ›Wind‹. Das hier ist richtig übersetzt ›Das Haus des Windes‹.«
    Ich wartete einen Moment, ob er noch etwas sagen würde. Als er schwieg, erhob ich mich langsam. »Das ist sehr interessant, Meister …« Ich zögerte, da ich nicht wusste, wie ernst er das alles gemeint hatte. »Aber ich muss jetzt gehen.«
    Elodin nickte gedankenverloren und winkte mir zu. Den Hof ließ er dabei keinen Moment lang aus dem Blick, verfolgte weiter die Wirbel des unablässig sich wandelnden Windes.

    Zurück in meinem Zimmer im Anker’s saß ich eine ganze Weile im Dunkeln auf dem Bett und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Ich hatte Schwierigkeiten, klar zu denken. Ich war erschöpft, hatte Verletzungen und war immer noch ein wenig betrunken. Die Wirkung des Adrenalins, das mich bis dahin angetrieben hatte,

Weitere Kostenlose Bücher