Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Name Des Windes

Der Name Des Windes

Titel: Der Name Des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
Vom Netzwerk:
nach einer Gabe. Ich würde das gerne mal sehen.«
    Ich nickte. »Bringt Eure eigenen Würfel mit. Wir haben ihn schon seit Jahren nicht mehr würfeln lassen.« Dann kam mir ein anderer Gedanke. »Aber vielleicht funktioniert es gar nicht mehr.«
    Er zuckte die Achseln. »Besondere Gaben verschwinden nicht so einfach. Als ich in Staup aufwuchs, kannte ich dort einen jungen Mann mit einer besonderen Gabe. Er konnte sehr gut mit Pflanzen umgehen, hatte einen grünen Daumen.« Abenthys Lächeln war verschwunden, und sein Blick richtete sich in die Ferne. »Seine Tomaten waren schon rot, wenn bei allen anderen noch die Stengel wuchsen. Seine Kürbisse waren die größten und süßesten, und seine Weintrauben waren buchstäblich schon bei der Lese der köstlichste Wein.« Er verstummte.
    »Hat man ihn verbrannt?«, fragte ich mit der morbiden Neugier eines Kindes.
    »Was? Nein, natürlich nicht. So alt bin ich nun auch wieder nicht.« Er blickte mich mit gespielter Strenge finster an. »Es gab eine Dürre, und er wurde aus der Stadt vertrieben. Seiner armen Mutter brach es das Herz.«
    Einen Moment lang herrschte Schweigen. Zwei Wagen vor uns hörte ich Teren und Shandi Verse aus Der Schweinehirt und die Nachtigall proben.
    Abenthy lauschte ebenfalls. Nachdem sich Teren mitten in FainsGartenmonolog verhaspelt hatte, wandte ich mich wieder an ihn. »Wird denn an der Universität auch Schauspielerei unterrichtet?«, fragte ich.
    Abenthy schüttelte leicht belustigt den Kopf über die Frage. »Die unterrichten dort vieles, aber das nicht.«
    Ich blickte zu ihm hinüber und sah, dass er mich beobachtete. Seine Augen funkelten.
    »Könntet Ihr mir etwas von diesen anderen Dingen beibringen?«, fragte ich.
    Er lächelte – und so einfach war das.

    Abenthy verschaffte mir zunächst einen knappen Überblick über die einzelnen Wissenschaften. Seine große Liebe galt zwar der Chemie, aber er legte Wert auf eine umfassende Allgemeinbildung. Ich lernte mit dem Sextanten umzugehen, mit dem Kompass, dem Rechenschieber und dem Abakus. Und vor allem lernte ich, auch ohne all das auszukommen.
    Binnen einer Spanne vermochte ich jede einzelne Chemikalie in seinem Wagen zu erkennen. Nach zwei Monaten konnte ich Schnaps destillieren, Wunden verbinden, Knochenbrüche richten und Hunderte von Krankheiten anhand ihrer Symptome diagnostizieren. Ich hatte gelernt, vier verschiedene Aphrodisiaka herzustellen, drei empfängnisverhütend wirkende Absude, neun Mittel gegen Impotenz und zwei Liebestränke.
    Ich erlernte die Formeln für ein Dutzend Gifte und Säuren sowie für hundert Arzneien und Allheilmittel, von denen einige sogar wirkten. Ich verdoppelte meine Kräuterkenntnisse – in der Theorie, wenn auch nicht in der Praxis. Abenthy fing an, mich »Red« zu nennen, Rotschopf, und ich nannte ihn Ben, erst als Retourkutsche, dann aus Freundschaft.
    Erst jetzt, im Rückblick, erkenne ich, wie sorgfältig Ben mich auf das vorbereitete, was später an der Universität auf mich zukam. Er machte das sehr geschickt. Ein oder zwei Mal am Tag unterbrach Ben den regulären Unterricht, stellte mir eine kleine geistige Übungsaufgabe und fuhr erst mit dem Stoff fort, wenn ich diese gemeistert hatte. Er ließ mich Tirani spielen, und zwar ohne Brett, und ich musste in Gedanken den Überblick über die Spielsteine behalten. Ein andermal hielt er mitten im Gespräch inne und ließ mich das, was in den letzten paar Minuten gesagt worden war, Wort für Wort wiederholen.
    Das ging weit über das schlichte Auswendiglernen hinaus, das ich für die Bühne praktizierte. Mein Geist lernte, auf immer neue Art und Weise zu funktionieren, und wurde dabei stärker. Es fühlte sich so ähnlich an, wie sich der eigene Körper anfühlt, wenn man den ganzen Tag lang Holz gehackt hat, geschwommen ist oder mit einer Frau im Bett war. Man ist erschöpft und hat ein wohliges Gefühl, fühlt sich beinahe göttergleich. Dieses Gefühl war ganz ähnlich, bloß dass es mein Geist war, der erschöpft war und erweitert, müde und latent mächtig. Ich spürte, wie mein Geist zu erwachen begann.
    Ich schien immer schnellere Fortschritte zu machen, wie wenn Wasser einen Sanddamm fortzuspülen beginnt. Ich weiß nicht, ob Ihr wisst, was eine geometrische Progression ist, aber damit lässt es sich am besten beschreiben. Und die ganze Zeit über gab mir Ben geistige Übungen auf, bei denen ich fast überzeugt war, dass er sie sich aus reiner Gemeinheit ausdachte.

Kapitel 10
    Alar und

Weitere Kostenlose Bücher