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Der Name Des Windes

Der Name Des Windes

Titel: Der Name Des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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diverse Steine

    B en hielt einen schmutzigen Feldstein in der Hand, der nur ein wenig größer war als seine Faust. »Was passiert, wenn ich diesen Stein loslasse?«
    Ich überlegte. Einfache Fragen waren im Unterricht nur selten wirklich einfach. Schließlich gab ich die naheliegende Antwort. »Er wird wahrscheinlich zu Boden fallen.«
    Ben hob eine Augenbraue. Ich hatte ihn in den vergangenen Monaten auf Trab gehalten, und er hatte nicht die nötige Muße gehabt, sich wieder versehentlich die Brauen zu versengen. »Wahrscheinlich? Du hörst dich ja an wie ein Sophist. Ist der Stein bisher nicht immer zu Boden gefallen?«
    Ich streckte ihm die Zunge heraus. »Das wäre ein Induktionsschluss, und der ist nicht logisch zwingend. Das hast du selbst mir beigebracht.«
    Er grinste. »Also gut. Könnte man behaupten, dass du glaubst, dass er zu Boden fallen wird?«
    »Könnte man.«
    »Ich will aber, dass du glaubst, dass er emporfliegen wird, wenn ich ihn loslasse.« Sein Grinsen wurde breiter.
    Ich versuchte es. Es war wie geistige Gymnastik. Nach einer Weile nickte ich. »Also gut.«
    »Wie stark glaubst du daran?«
    »Nicht sehr stark«, gestand ich.
    »Ich will, dass du glaubst, dass dieser Stein fortschweben wird. Ich will, dass du es mit einer Inbrunst glaubst, die Berge versetzen kann.« Er hielt inne und setzte neu an. »Glaubst du an Gott?«
    »An Tehlu? In gewisser Weise.«
    »Das reicht nicht. Glaubst du an deine Eltern?«
    Ich lächelte. »Manchmal. Im Moment kann ich sie gerade nicht sehen.«
    Er schnaubte und nahm die Gerte, mit der er Alpha und Beta antrieb, wenn sie ihm zu langsam gingen. »Glaubst du hieran, E’lir?« E’lir nannte er mich nur, wenn er meinte, dass ich mich bewusst starrsinnig verhielt. Er hielt mir die Gerte hin.
    Er hatte ein schalkhaftes Funkeln in den Augen. Ich beschloss, das Schicksal nicht herauszufordern. »Ja.«
    »Gut.« Er schlug damit mit lautem Knall an die Seitenwand des Wagens. Nicht wissend, ob ihr das galt, drehte Alpha ein Ohr nach hinten. »Das ist die Art von Glaube, um die es mir geht. Man nennt das Alar  – der Gertenglaube. Wenn ich diesen Stein loslasse, wird er davonfliegen, frei wie ein Vogel.«
    Er fuchtelte mit der Gerte. »Und jetzt bleib mir bloß mit deiner lächerlichen Philosophie vom Leib, sonst sorge ich dafür, dass es dir leid tut, dass du jemals ein Faible für dieses kleine Spielchen entwickelt hast.«
    Ich nickte. Mit einem der Tricks, die er mir beigebracht hatte, verschaffte ich mir einen klaren Kopf und konzentrierte mich dann darauf, daran zu glauben. Mir brach der Schweiß aus.
    Gut zehn Minuten später nickte ich erneut.
    Er ließ den Stein los. Der Stein fiel zu Boden.
    Ich bekam Kopfschmerzen.
    Er hob den Stein wieder auf. »Glaubst du, dass er geschwebt ist?«
    »Nein!«, sagte ich schmollend und rieb mir die Schläfen.
    »Gut. Er ist auch nicht geschwebt. Täusche dich nie so weit, dass du etwas wahrnimmst, was gar nicht existiert. Das ist ein schmaler Grat, aber die Sympathie ist keine Kunst für Willensschwache.«
    Er hielt den Stein wieder in der Hand. »Glaubst du, dass er schweben wird?«
    »Er ist aber nicht geschwebt!«
    »Das spielt keine Rolle. Nächster Versuch.« Er schüttelte den Stein. »Das Alar ist der Grundstein der Sympathie. Wenn du die Welt deinem Willen unterwerfen willst, musst du die Kontrolle darüber haben, was du glaubst.«
    Ich versuchte es noch einmal und noch einmal. Es war das Schwierigste, was ich bis dahin je getan hatte. Ich brauchte fast den ganzen Nachmittag dafür.
    Schließlich konnte Ben den Stein fallenlassen, und ich blieb trotz gegenteiliger Beweise festen Glaubens, dass er nicht zu Boden fallen würde.
    Ich hörte, wie der Stein aufschlug, und sah zu Ben hinüber. »Jetzt hab ich’s«, sagte ich ganz ruhig.
    Ben sah mich aus dem Augenwinkel an, so als glaubte er mir nicht so ganz, wollte es aber nicht zugeben. Er schabte geistesabwesend mit einem Fingernagel über den Stein, zuckte dann mit den Achseln und hob den Stein wieder auf. »Ich will, dass du glaubst, dass der Stein, wenn ich ihn loslasse, zu Boden fällt, und dass er nicht zu Boden fällt.« Er grinste.

    An diesem Abend ging ich spät zu Bett. Ich hatte Nasenbluten und ein sehr zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht. Ich behielt die beiden gegensätzlichen Überzeugungen im Bewusstsein und ließ mich von ihrer Dissonanz in den Schlaf lullen.
    Gleichzeitig an zwei ganz verschiedene Dinge denken zu können, war nicht nur wunderbar

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