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Der Name Des Windes

Der Name Des Windes

Titel: Der Name Des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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Stimme meines Vaters. So schnell ich es nur wagte, huschte ich in den langen Schatten des Wagens meiner Eltern.
    »… die Arbeit an diesem Lied gleicht dem Versuch, Gespenster zu erhaschen. Der Versuch, diese Geschichte zu rekonstruieren, ist der reine Irrwitz. Hätte ich doch bloß niemals damit angefangen.«
    »Ach was«, sagte meine Mutter. »Es ist dein bestes Werk, und das weißt du auch.«
    »Dann glaubt Ihr also, dass es eine ursprüngliche Geschichte gibt, auf die alle anderen Geschichten zurückgehen?«, fragte Ben. »Eine historische Grundlage für Lanre?«
    »Es deutet alles darauf hin«, sagte mein Vater. »Es ist, als würde man zwölf Enkelkinder betrachten und sehen, dass zehn von ihnen blaue Augen haben. Da weiß man dann, dass die Großmutter auch blaue Augen hatte. Ich habe so etwas schon einmal gemacht, ich beherrsche das. Unter den Mauern habe ich auf die gleiche Weise geschrieben. Aber …« Ich hörte ihn seufzen.
    »Was ist denn dann das Problem?«
    »Die Geschichte ist älter«, erklärte meine Mutter. »Es ist eher, als würde man Ururenkel betrachten.«
    »Ja, und als wären sie in alle vier Winde verstreut«, fügte mein Vater hinzu. »Und wenn ich endlich eins dieser Kinder gefunden habe, hat es fünf Augen: zwei grüne, ein hellgrünes, ein blaues und ein braunes. Das nächste Kind hat dann nur ein Auge, das aber seine Farbe zu ändern vermag. Wie soll ich denn daraus irgendwelche Schlussfolgerungen ziehen?«
    Ben räusperte sich. »Eine beunruhigende Analogie«, sagte er. »Aber Ihr dürft Euch gerne mein Wissen über die Chandrian zunutze machen. Im Laufe der Jahre habe ich eine Menge Geschichten über sie gehört.«
    »Zuallererst muss ich wissen, wie viele es überhaupt sind«, sagte mein Vater. »In den meisten Geschichten heißt es, es seien sieben, aber selbst dazu gibt es widersprüchliche Angaben. Manche sagen, es seien drei, andere fünf, und in Feliors Fall sind es gar dreizehn – einer für jeden Pontifet in Atur und dann noch einer zusätzlich für die Hauptstadt.«
    »Das kann ich beantworten«, sagte Ben. »Es sind sieben. Da könnt Ihr Euch sicher sein. Es steckt nämlich schon in ihrem Namen. Chaen bedeutet ›sieben‹. Chaen-dian bedeutet ›Die Sieben‹. Chandrian.«
    »Das wusste ich nicht«, sagte mein Vater. » Chaen . Was ist denn das für eine Sprache? Yllisch?«
    »Klingt nach Tema«, sagte meine Mutter.
    »Ihr habt ein gutes Ohr«, sagte Ben. »Es ist Temisch. Gut tausend Jahre älter als Tema.«
    »Na, das macht es doch schon mal viel einfacher«, hörte ich meinen Vater sagen. »Hätte ich Euch doch bloß schon vor einem Monat gefragt. Ich nehme nicht an, dass Ihr wisst, warum sie tun, was sie tun?« Am Tonfall meines Vaters hörte ich, dass er darauf keine Antwort erwartete.
    »Das ist das große Rätsel, nicht wahr?«, sagte Ben. »Ich glaube, deshalb sind sie viel furchterregender als die anderen Schreckgespenster, von denen man in Geschichten hört. Ein Geist will Vergeltung, ein Dämon will deine Seele, und ein Butzemann ist hungrig und durchgefroren. Das nimmt ihnen etwas von ihrem Schrecken. Dinge, die wir nachvollziehen können, können wir auch versuchen zu beherrschen. Die Chandrian aber kommen wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Reine Zerstörung. Ohne Sinn und Verstand.«
    »In meinem Lied kommt beides zu seinem Recht«, sagte mein Vater mit grimmiger Entschlossenheit. »Ich glaube, ich habe nun letztlich doch herausgefunden, was ihre Beweggründe sind. Ich habe es aus vielen kleinen Einzelheiten herausgepusselt. Das ist ja so ärgerlich daran: Das Schwierige habe ich bereits erledigt, und jetzt bereiten mir diese ganzen Einzelheiten solche Probleme.«
    »Ihr glaubt, Ihr wisst es?«, fragte Ben neugierig. »Wie sieht Eure Theorie denn aus?«
    Mein Vater lachte leise. »Oh nein, Ben, da müsst Ihr wie alle anderen auch noch warten. Ich habe zu lange an diesem Lied gefeilt, um den Kern zu verraten, ehe es richtig fertig ist.«
    Bens Stimme klang enttäuscht. »Das ist doch alles nur eine ausgeklügelte List, die mich dazu bringen soll, auch weiterhin mit Euch zu reisen«, murrte er. »Jetzt kann ich Euch erst wieder verlassen, wenn ich das verdammte Ding gehört habe.«
    »Dann helft uns doch, es fertig zu stellen«, sagte meine Mutter. »Die Zeichen der Chandrian sind ein weiteres Schlüsselelement, über das sich die Gelehrten streiten. Man ist sich allgemein einig, dass esZeichen gibt, die vor ihrer Anwesenheit warnen, aber welche das sind,

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