Der Narr und der Tod
anzufangen.
Der Tag hatte noch nicht einmal richtig begonnen, und schon fühlte ich mich erschöpft. Als ich Hayden aus seinem Bettchen hob, schien der Kleine über Nacht schwerer geworden zu sein. Ich legte ihn zu Martin aufs Bett, um mir meinen Bademantel zu holen, und als ich mich wieder den beiden zuwandte, stützte Martin sich auf den linken Ellbogen und streckte Hayden den rechten Zeigefinger hin, damit ihn der Kleine festhalten konnte. Das Baby musterte Martin mit ernsthafter Miene. Ich beobachtete die beiden einen Augenblick und spürte, wie mein Herz an verschiedenen Sollbruchstellen in Stücke ging.
Resolut wandte ich mich ab, um meine wilden Locken zum Pferdeschwanz zusammenzufassen. Hayden hatte am Abend zuvor die Tendenz gezeigt, sich mein Haar zu schnappen und daran zu zerren, ein Erlebnis, das ich nicht gerade genossen hatte. Nach den Haaren war mein schwarzer Samtbademantel dran: Ich verknotete den Gürtel besonders fest, ehe ich mich vorsichtig über das Bett beugte, um Hayden hochzunehmen.
„Wie alt ist er deiner Meinung nach?“, fragte ich Martin, bestürzt, dass ich nicht einmal das Alter des Kindes kannte.
„Ich habe nicht die leiseste Ahnung.“ Mein Mann starrte seinen Großneffen an, wobei er im Geist ein paar Vergleiche anzustellen schien. „Er kommt mir ein bisschen kleiner vor als das Kind von Bubba und Lizanne.“
Das hatte ich auch schon gedacht. „Ungefähr einen Monat alt?“, riet ich ins Blaue hinein.
Martin zuckte die nackten Schultern.
„Die Leute werden uns das fragen.“ Ich klang jetzt schon müde, wie sollte das bloß weitergehen? „Das fragen die Leute immer.“
„Oh, Gott.“ Martin drehte sich auf den Rücken und hielt sich schützend die Hände vors Gesicht, als könnte er die Welt so aussperren.
„Du solltest Cindy anrufen.“ Hoffentlich klang das beiläufig genug. „Regina hat angedeutet, dass die beiden einander nahestehen. Vielleicht kann sie uns mehr über dieses Baby verraten und eventuell weiß sie sogar, wie wir Barby erreichen können.“
Ich stieg ganz vorsichtig die Treppe hinunter, in der rechten Hand Bademantel- und Nachthemdsaum, im linken Arm Hayden. Mein sicheres Ankommen am Boden empfand ich irrwitzigerweise als gutes Omen.
Es klopfte leise und diskret an der Hintertür. So klopfte nur eine Person: meine Mutter.
Ich schaltete die Alarmanlage aus und öffnete die Tür.
Meine Mutter, Aida Brattle Teagarden Queensland, sah mit ihren siebenundfünfzig Jahren immer noch umwerfend aus. An guten Tagen glich sie Lauren Bacall. Sie war intelligent und geschäftstüchtig und hatte sich ohne jede fremde Hilfe ein kleines Vermögen erwirtschaftet. Ich liebte sie. Sie liebte mich. Wir lebten auf unterschiedlichen Planeten.
„Haben sie das Mädchen gefunden?“ Ohne weitere Vorrede kam Mutter herein.
„Das Mädchen“ dürfte wohl Regina sein. „Nein. Wir wissen jedenfalls nichts davon. Ich bin eben erst aufgestanden“, fügte ich unnötigerweise hinzu, denn das war mir wohl mehr als deutlich anzusehen.
„Martin schläft noch?“ Mutter warf einen kritischen Blick auf die Küchenuhr. Es war bereits nach halb zehn.
„Wir hatten eine lange Nacht.“ Das hätte sie sich eigentlich denken können; ich hatte Mutter gleich nach Eintreffen der Polizei angerufen, damit sie die Neuigkeiten nicht von jemand anderem zu hören bekam.
Mutter streckte energisch die Arme aus, woraufhin ich ihr gehorsam das Baby überreichte. Sie kannte sich aus, war sie doch inzwischen dreifache Stiefgroßmutter und hatte, was mich einigermaßen erstaunte, ihre Stiefenkel sehr gern.
Mutter sah das Baby an, das Baby erwiderte den Blick staunend, aber ohne sich zu beschweren.
„Vielleicht zwei, drei Wochen alt“, meinte Mutter kurz angebunden, während sie Hayden in den Sitz legte, der immer noch auf dem Tisch stand. „Hast du Babynahrung im Haus?“
„Regina hat ein paar Fläschchen angerührt, ehe sie ...“ Ja, ehe sie was? Ich wusste nicht, wie ich den Satz beenden sollte. Ehe sie ihren Mann umbrachte und das Weite suchte? Ehe sie von Außerirdischen entführt wurde?
„Du brauchst eine Kinderfrau für den Kleinen“, sagte meine Mutter, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Sie hielt mich für unfähig, was Kinderpflege anging. Das verletzte mich irgendwie. Aber woher sollte ihr Vertrauen in meine Babybetreuungskünste auch kommen? Ich hatte bisher noch nie ein Baby betreut.
Schon komisch, wie manche Bemerkungen einen verletzen, während
Weitere Kostenlose Bücher