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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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unsichtbare Drei-Meilen-Grenze. Wir hielten unsere Waffen schußbereit gegen den Feind gerichtet, der irgendwo im Finstern lauerte. Kurz vor Einbruch der Neuen Morgendämmerung erreichten uns die Fischerboote der Haganah. Wir stiegen um, schwarze Käfer in der Nacht, kletterten über die Strickleiter der ›Auferstehung‹, mit Sack und Pack.
    Wir ließen die Nacht hinter uns. Als wir anlangten, streckte der Neue Tag seine Arme aus. Aber sehr vorsichtig. Wie ein Erwachender, der es nicht wagt, die Augen zu öffnen. Noch war der Strand dunkel.
    Die Leute zogen sich die Schuhe aus und kletterten aus den Booten, fingen zu weinen an, wateten durch flaches Wasser, wateten taumelnd und weinend ... wateten die letzte Strecke barfuß und taumelnd und weinend ... hatten nasse Füße ... fingen plötzlich zu rennen an. Und standen auf trockenem Boden. Dort fielen sie auf die Knie, dankten dem Herrn, an den sie in jenem Augenblick ganz plötzlich wieder glaubten und küßten die Heilige Erde.
    Ein dunkler Strand, obwohl es schon Tag war. Rings um mich kniende Menschen, die so tun, als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt gäbe, als den Sand zu küssen. Sie werden sich vorstellen können, daß ich, der Massenmörder Max Schulz, ein bißchen verwirrt war. Was soll te ich tun? Die Heilige Erde küssen? Oder nicht küssen? Weinen oder nicht weinen? Dem Herrn danken oder nicht danken? Ich fiel also auf die Knie, um nichtaufzufallen, küßte die Heilige Erde und dankte dem Herrn.
    Es ist Tag. Und trotzdem ist der Strand dunkel. Die Sonne wartet. Die Sonne will uns beschützen, bis wir in Sicherheit sind.
    Eine Reihe Lastautos, die am Straßenrand warten. Überall bewaffnete Haganahleute, junge Männer und Frauen in Khakiuniformen, wachsame Schatten im Dun keln.
    Ich, der Massenmörder Max Schulz, habe die Erde geküßt. Mein Mund ist voller Sand. Ich richte mich auf, spucke den Sand aus, bemerke Hanna Lewisohn, die neben mir steht, auch Sand spuckt, sich plötzlich umdreht, mir um den Hals fällt und sagt: »Itzig! Jetzt sind wir wieder zu Hause!«
    Hanna weint. Ich weine auch. Noch immer. Hanna sagt: »Itzig, nicht mehr weinen!«
    Ich sage: »Nein, Hanna. Wir haben genug geweint. Das ist das letzte Mal.«
    Hanna nickt. Ich kann es im Dunkeln sehen: Ein Schatten bewegt den Kopf. Ein nickender Schatten. Hanna sagt: »Die Haganah hat den Strand abgeriegelt.«
    Ich sage: »Ja, Hanna. Wenn die Engländer kommen, wird gekämpft.« Und ich blicke mich um, kann aber nur Schatten sehen, vermute: Schatten in Khakiunifor men, Maschinenpistolen ... bewaffnete jüdische Solda ten.
    Ich weiß nicht, wie lange das alles gedauert hat: die Ankunft, die Umarmung mit der Erde, das Stoßgebet, das Erwachen, das Auftaumeln, die Hetzjagd über den Heiligen Strand in Richtung Straße, der Sturm auf die Lastautos. Ich weiß nur, daß Hanna und ich die Kolonne der Lastautos erreichten, daß hilfreiche Hände unshochzogen, daß Hanna neben mir stand, als der Motor ansprang, daß es plötzlich zu dämmern anfing über der Landschaft, daß die Wüste Konturen bekam, daß die Sonne verspielt hinter den Dünen hervorguckte, daß sich der Himmel öffnete.
    Wir hatten viel Zeit verloren. Wir hatten fast 2000 Jahre auf diesen Augenblick gewartet. Jetzt mußten wir weiter, ehe die Engländer auftauchten.
    Wir fuhren los. Nur die Nachhut der Haganah blieb am Strand zurück, um unseren Rückzug zu decken.
    Oder ... sagen wir ... um unseren Vormarsch zu sichern.
2.
    Arabische Hirten hatten unsere Landung beobachtet und natürlich die Engländer alarmiert. Aber erst spät am Nachmittag. ›Baruch Haschem‹ - das heißt: Gelobt sei Sein Name - erst spät am Nachmittag, nachdem wir Illegalen oder wir Legalen längst über alle Berge oder sagen wir, hinter den Sandhügeln der Wüste verschwunden waren. Die Engländer haben dann tüchtig herumgeschnüffelt, ärgerlich, weil sie geschlafen hatten, schlugen auch zu mit der welken Hand des sterbenden Empires ... aber zu spät.
    Sie werden sich vorstellen können, daß die Presse bald Wind von der Sache bekam, sogar Einzelheiten über das Geisterschiff und seine abenteuerliche Fahrt wurden bekannt, nachdem einige von Teiresias Pappas Leuten, die auf der Rückfahrt in griechischen Häfen an Land gegangen waren, unser Geheimnis im Suff ausge plaudert hatten.
    Die Weltpresse brachte die Nachricht über unsere Landung mit großen Schlagzeilen. Ich habe einige davon ausgeschnitten, leicht korrigiert mit wenigen Federstrichen, und

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