Der Nine-Eleven-Junge - Bruton, C: Nine-Eleven-Junge - We can be heroes
leichtem amerikanischem Akzent, während sie das Wort eintippt. »Hinterblieben.«
Priti wendet sich mir zu und grinst, als sie die Entertaste drückt, und plötzlich steht eine Liste von Hyperlinks auf dem Bildschirm.
»Bingo!«, ruft sie. Ich stelle mir einen Spielautomaten vor, auf dem drei kleine Flugzeuge in einer Reihe erscheinen. Tsching! Tsching! Tsching! »Gut, klicken wir einfach auf den obersten.«
Ich sehe nicht auf den Bildschirm. Ich sehe auf meine Hände runter, aber Priti ruft den Link auf, und liest den Inhalt laut vor, deshalb bleibt mir nicht viel anderes übrig als zuzuhören.
»Bei den Terroranschlägen vom 11 . September 2001 verloren fast dreitausend Kinder unter achtzehn Jahren ein Elternteil« , liest sie. »Wow! Also gibt es jede Menge wie dich.«
»Die meisten davon sind in Amerika.«
»Trotzdem muss es auch hier ein paar geben. Ich wette, du wusstest nicht, dass es so viele von euch gibt?«
»Ich habe nie darüber nachgedacht.« Das ist fast die Wahrheit. Ich habe nie überlegt, wie viele andere Kinder wie mich es gibt, aber ich habe mich manchmal gefragt, was ich tun würde, wenn ich je einem von ihnen begegne.
»Das Durchschnittsalter der ›Nine-Eleven-Kinder‹ zur Zeit, als die Twin Towers einstürzten, lag bei neun« , liest Priti weiter. »Einige waren jedoch nur Babys im Arm (oder im Bauch) ihrer Mutter, als sie an diesem Tag ein Elternteil verloren.« Sie wendet sich mir zu. »Wer erst hinterher auf die Welt gekommen ist, ist seinem Vater überhaupt nie begegnet.«
»Wird wohl so sein«, sage ich. Die haben wenigstens eine brauchbare Erklärung, weshalb sie sich an ihren Vater nicht erinnern können.
»Das muss komisch sein«, sagt Priti. »Ich möchte wissen, ob sie ihnen auf dem Weg nach unten begegnet sind.«
»Wie bitte?«
»Die Babys auf dem Weg zur Erde und die Väter auf dem Weg nach oben. Vielleicht sind sie sich unterwegs begegnet.«
»Ich glaube nicht, dass das so funktioniert.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es ja nicht – offensichtlich!«
»Na, da siehst du’s.«
Ich schenke es mir, mit Priti zu streiten, und sie liest weiter vom Bildschirm vor. Ich muss zugeben – auch wenn ich es ihr natürlich nie sagen würde –, ich bin beeindruckt, was sie in ihrem Alter schon lesen kann. »Eine neuere Studie zeigte, dass der Anteil von psychi…« – sie stockt – »psychi-atrischen Störungen bei Kindern, die während der Anschläge von 2001 Angehörige verloren haben, mehr als doppelt so hoch liegt wie normal« , fährt sie fort. »Psychi-atrisch heißt gestört. Plemplem. So Leute, mit denen meine Mum sich beschäftigt. Stimmt’s?«, fragt sie und schaut mich an, als suche sie nach Anzeichen dafür, dass ich den Verstand verliere.
Es muss ein besseres Wort dafür geben, aber mir fällt keins ein, deshalb nicke ich nur.
»Wow, dann steckst du echt in der Tinte.«
»Was steht denn da noch?«, frage ich, ohne auf die Looney-Toons-Fratze zu achten, die sie mir schneidet.
»Die Forscher fanden heraus, dass über fünfzig Prozent Anzeichen einer Angststörung zeigten, und ein Drittel litt unter Symptomenvon Post-trau…« – sie stockt wieder, und einen Augenblick lang glaube ich, dass sie endlich auf ein Wort gestoßen ist, das sie nicht lesen kann, doch dann fährt sie fort: »Post-traumatischer Belastungsstörung.«
»Ich weiß nicht einmal, was das heißt«, sage ich.
»Ich auch nicht«, gibt Priti zu. »Glaubst du, du hast das?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Na ja, wenn du es hast, ohne es zu merken, dann kann es doch nicht so schlimm sein, oder?«
»Wahrscheinlich nicht«, sage ich.
Priti wendet sich wieder dem Bildschirm zu. »Über siebenundzwanzig Prozent der hinterbliebenen Kinder zeigten Symptome von Trennungsangst, und vierzehn Prozent litten unter einer schweren de-pres-siven Störung« , liest sie weiter. Die längeren Wörter spricht sie langsam und sorgfältig aus. » Der Anteil einfacher Pho-bi-en bei leidtragenden Kindern betrug das Doppelte der Vergleichsgruppe. Na, da hast du es also. Das erklärt, weshalb du oft so elend aussiehst.«
»Das tue ich überhaupt nicht!«
»Und du hast auch dauernd Schiss.«
»Das ist überhaupt nicht wahr!«
»Als Tyreese und seine Gang uns angemacht haben, hast du es einfach geschluckt.«
»Das hätte jeder normale Mensch getan!«, rufe ich aus. »Nur weil du irgendwie auf so ein Zeug stehst, heißt das noch lange nicht, dass ich eine Angststörung habe oder wie sie das
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