Der Novembermörder
immer heftigeren Bewegungen. Das Jammern wurde zum Schrei, und Sylvia zitterte nunmehr am ganzen Körper. Verdammt, wieder war es ihr passiert! Warum, warum konnte sie nur nicht mit Sylvia umgehen?
Sie hastete zur Schlafzimmertür und rief nach Arja. Dann ging sie mit erzwungener Ruhe zurück zu Sylvia und versuchte diese zu beruhigen. Aber das war zwecklos. Sylvia hatte sich in einen Zustand der Hysterie hineingesteigert und schrie wie eine Sirene. Als Irene versuchte, ihr eine Hand auf den Arm zu legen, heulte sie laut auf. Und fiel in Ohnmacht. Diese Frau konnte wirklich elegant in Ohnmacht fallen! Wie eine herabsinkende Schwanenfeder sank sie in einer grazilen Bewegung in sich zusammen. Der eine Arm lag in einem Bogen über dem Kopf, während der andere etwas über dem Zwerchfell ruhte. Dieses Bild bot sich Arja, als sie durch die Tür trat.
»Ach herrje, ist sie schon wieder in Ohnmacht gefallen«, bemerkte diese nur ruhig. Ohne Hast kam sie zu ihrer Schwester. Geschickt hob sie Sylvias Beine hoch und begann die Waden zu massieren. Dabei schaute sie Irene an, die glaubte, man könne ihr ihr schlechtes Gewissen ansehen. Ruhig fragte Arja: »Was hat sie denn so aufgeregt?«
»Aufgeregt? Die Schlüssel«, erklärte Irene vage.
»Sylvia ist schon immer in Ohnmacht gefallen, wenn sie sich aufgeregt hat. Ihr ganzes Leben lang! Halt eine empfindliche Künstlerseele, wissen Sie.«
Arja zeigte ein offenes, freundliches Lächeln, und Irene fühlte sich langsam wieder etwas wohler in ihrer Haut. Sie beschloss, Arja die Wahrheit zu sagen.
»Es ist passiert, als ich Sylvia gezeigt habe, dass Richards Schlüsselbund neu gemacht wurde. Also waren die Schlüssel, die wir in der Tür in der Berzeliigatan gefunden haben, Richards alte. Sie sind ihm im Spätsommer abhanden gekommen und er hat Sylvia nichts davon gesagt.«
Arja warf ihr einen Blick zu. Mit Nachdruck sagte sie: »Es gab eine ganze Menge, was Richard Sylvia nicht gesagt hat.«
Jetzt oder nie! Irene schaute auf Sylvia hinunter, die schwache Lebenszeichen zu zeigen begann. Leise sagte sie zwischen den Zähnen zu Arja: »Erzählen Sie mir vom Fest!«
Arja zuckte zusammen und schaute schnell auf Sylvias blasses Gesicht. Sie legte einen Zeigefinger auf den Mund und machte eine Geste zu ihrer Schwester hin.
»Vielleicht sollten wir sie besser aufs Bett legen?«
Gemeinsam hoben sie den federleichten Körper hoch. Sylvia murmelte leise etwas und ihre Lider zuckten.
»Ich hole unsere Mutter«, sagte Arja.
Aber sie hatte den Satz noch nicht beendet, da glitt schon eine kleine dünne Schattengestalt durch die Tür. Irene fehlten die Worte. Genauso würde Sylvia in fünfundzwanzig Jahren aussehen. Die kleine Dame kümmerte sich gar nicht um die anderen zwei, sie trippelte zielsicher aufs Bett zu. Mit ihren dünnen Händchen, auf denen die blauen Adern auf der weißen Haut zu liegen schienen, umfasste sie die ebenso bleichen und blutleeren Hände ihrer Tochter. Vorsichtig streichelte sie Sylvia, wobei sie leise tröstende Worte murmelte. In Irenes Ohren klangen sie wie Beschwörungsformeln, aber nach einer Weile wurde ihr klar, dass die alte Dame Finnisch redete.
Arja stieß sie verstohlen in die Seite und machte mit dem Kopf eine Bewegung zur Tür hin. Leise schlüpften sie hinaus und die breite Treppe hinunter. Sie gingen weiter in den Flur, und Arja nahm einen Schlüssel, der auf der verzierten Marmorplatte der Flurgarderobe lag. Sie öffnete die Wohnungstür und gab Irene ein Zeichen, ihr zu folgen. Schnell lief sie die Treppe zur Wohnung ein Stockwerk tiefer hinunter. Mit wachsender Verwunderung bemerkte Irene, dass sie auf dem Weg in die Wohnung unter der von Knechts waren. Energisch schloss Arja auf. Sie bedeutete Irene hineinzugehen. Leise schloss sie die Tür und drückte auf den Lichtschalter an der Wand. Eine nackte Glühbirne hing von der Decke und verbreitete ein grelles Licht. Es roch nach Farbe und Tapetenkleister. Arja breitete die Arme aus und erklärte: »Ivan Viktors wird morgen hier einziehen. Die Möbelwagen kommen ganz früh.«
»Wissen Sie, dass Sylvia und Ivan Viktors ein Verhältnis miteinander haben?«
Arja erstarrte und warf ihr einen prüfenden Blick zu: »Das wissen Sie auch? Ja, natürlich weiß ich das. Und das ist Sylvia nur zu gönnen. Es war nicht immer lustig, Richards Frau zu sein. Er war ein ziemlicher Drecksack!«
»Ssack«, sprach sie es aus. Und es klang richtig nett. Irene beschloss, direkt zur Sache zu kommen und nicht um
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