Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Novembermörder

Der Novembermörder

Titel: Der Novembermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Tursten
Vom Netzwerk:
versuchte zu lächeln und einen freundlichen Eindruck zu machen.
    »Danke, dass ich noch mal kommen und Sie stören durfte. Ich muss etwas überprüfen. Und zwar geht es um die Schlüssel«, erklärte sie.
    »Ja?«
    »Können wir nach oben gehen?«
    Sylvia zuckte mit den Schultern und schritt die Treppe hinauf, die in den ersten Stock führte. Irene nahm an, dass sie sich ihr an die Fersen heften sollte.
    Im oberen Stockwerk blieb Sylvia stehen und drehte sich um. Sie hob mit kühlem Blick eine Augenbraue und fragte: »Die Schlüssel?«
    »Ob Sie so gut wären und mir die Ersatzschlüssel holen? Sie haben doch gesagt, dass Sie sie in Ihrer Schreibtischschublade in Ihrem Arbeitszimmer aufbewahren. Und ich werde das Schlüsseletui Ihres Mannes holen. Das heißt, wenn es immer noch auf seinem Nachttisch liegt.«
    Sylvia schnaubte leise, bevor sie antwortete: »In der Schublade seines Nachttischs. Und die Polizei geht in meinem Haus ja sowieso aus und ein, wie sie will. Ich kann Sie wohl nicht daran hindern. Seine Autoschlüssel haben Sie sich ja schon geholt, ohne sie wieder zurückzubringen.«
    Sie drehte sich schroff um und verschwand in ihrem Arbeitszimmer. Irene schluckte, was sie schon auf der Zunge hatte, lieber wieder hinunter. Nicht wütend werden, nicht wütend werden …
    Das Zimmer hatte sich verändert. Es dauerte nicht lange, bis Irene merkte, dass die Bilder weg waren. Das eine und andere hing noch an den leeren Wänden, aber keines der »Sexbilder« mehr, wie Irene sie in ihrer Unkenntnis genannt hatte – »eine Sammlung von Erotica« hatte Henrik von Knecht sie korrigiert. Was man nicht alles Nützliches bei so einer Untersuchung lernte! Die noch an den Wänden hingen, waren ganz normale Bilder. Modern und merkwürdig, aber keine Nacktstudien mehr. Eine Prise Sympathie für Sylvia durchfuhr Irene. Schnell ging sie zu dem riesigen Seidenbett und öffnete die Schublade von Richards Nachttisch. Darin lagen Papiertaschentücher, einige eisblaue Halstabletten in einer durchsichtigen Hülle und der schwarze Schlüsselbund aus Glattleder. Jetzt sollte sich herausstellen, ob sie Recht hatte. Überrascht musste sie feststellen, dass ihre Hände leicht zitterten, als sie das Etui aufknöpfte. Heraus fielen sechs Schlüssel, jeder in seiner Öse hängend. Alle glänzten makellos. Alle waren aus genau dem gleichen Metall. Alle waren ohne Nummer oder Markierungen. Und ohne jede Abnutzung. Das war der neu angefertigte Schlüsselbund, den Richard von Knecht vor nicht einmal einem halben Jahr bei Mister Minit hatte machen lassen. Ein Seufzer der Erleichterung durchfuhr Irene.
    »Haben Sie etwas Interessantes gefunden?«
    Sylvias Stimme war hinter ihrem Rücken zu vernehmen. Man hätte Glas damit schneiden können. Ruhig drehte Irene sich um, ging auf die steife, dünne Gestalt zu und sagte: »Haben Sie sich Richards Schlüsselbund nach seinem Tod einmal angesehen?«
    Sylvia riss die Augen vor Verwunderung auf, nahm aber schnell wieder ihre feindliche Haltung ein.
    »Warum sollte ich? Ich habe doch meinen eigenen!«
    »Sie haben also seine Schlüssel nicht in der Hand gehabt?«
    »Nein, das habe ich doch gerade gesagt! Ich habe den Bund nur in die Schublade gelegt.«
    »Sehen Sie mal. Vergleichen Sie Ihren Schlüsselbund mit den Schlüsseln aus Richards Etui. So, ja, nehmen Sie sie ruhig in die Hand«, sagte Irene freundlich überredend.
    Zögernd machte Sylvia, wozu sie aufgefordert worden war. Als sie die Schlüssel nebeneinander hielt, konnte sie es auch erkennen. Richards neue, glänzende funkelten wie Tannenbaumschmuck, während Sylvias Schlüssel sich in Alter, Abnutzung und Oxidation unterschieden. Außerdem waren sie mit unterschiedlichen Ziffern und Buchstaben versehen.
    Mit starren Lippen flüsterte Sylvia: »Mein Gott!«
    Sie war von den Schlüsseln wie verhext, konnte ihren Blick nicht von ihnen wenden. Langsam sagte Irene: »Jemand hat sich Richards Schlüssel im Sommer ausgeliehen oder gestohlen. Er hat sie nicht zurückbekommen, sondern einen neuen Satz machen lassen. Warum? Warum hat er nicht gesagt, dass die Schlüssel weg waren? Warum hat er nicht die Schlösser austauschen lassen? Warum hat er Ihnen nichts davon gesagt?«
    Sylvia starrte weiterhin die Schlüssel in Irenes Hand an. Ihre Augen sahen unnatürlich groß aus in dem schmalen, durchscheinenden Gesicht. Ein Jammern stieg aus ihrer Kehle nach oben, und sie fing an, den Kopf von einer Seite zur anderen zu werfen. Zuerst kaum merkbar, dann in

Weitere Kostenlose Bücher