Der Novembermörder
halten kann. Und heute ist so ein Tag. Sie werden bald verstehen, warum. Aber zunächst wollen wir essen, bevor wir ernsthaft miteinander sprechen.«
Die Heringe waren himmlisch. Irene ertappte sich selbst dabei, dass sie das gute Essen nur so in sich hineinschaufelte. Sie stießen auf die Gamla Stan an, mit Aalborg beziehungsweise Pripps folköl. Mona führte ungezwungen und locker die Konversation. Obwohl es für längere Momente still blieb, war es doch nie peinlich.
Sie hatten den märchenhaften Pflaumenkuchen aufgegessen und tranken jetzt noch eine Tasse Kaffee. Mona hatte sich einen Cognac dazu bestellt, den Irene dankend abgelehnt hatte. Es war Mona nicht anzumerken, dass sie Alkohol getrunken hatte. Vielleicht war die leichte Anspannung in den Schultern geringer geworden, aber an Sprache und Gesten war nichts zu bemerken. Daraus zog Irene den Schluss, das Mona es wohl gewohnt war, eine ganze Menge zu trinken. Mona zog ein Päckchen Zigarillos aus ihrer exklusiven Tasche hervor, die perfekt zu dem hellgrauen Jackett aus weicher Wolle passte. Darunter trug sie eine weiße Seidenbluse und einen schwarzen, geraden Rock. Graue, bequeme Pumps mit einem kräftigen Absatz rundeten das Bild einer Frau mit Stil, Macht und Geld ab. Die schweren Goldketten um den Hals unterstrichen diesen Eindruck noch. Sie trug keine Ringe.
Mona reichte Irene das Zigarillopäckchen, die jedoch dankend abwinkte. Darauf zündete Mona sich ihren Zigarillo bedächtig an und blies lustvoll eine Wolke gegen die Decke. Mit leicht zusammengekniffenen Augen schaute sie sich durch den Rauch um. Die beiden Frauen waren allein im Raum. Aus anderen Räumen waren Stimmen zu hören, aber hier war außer ihnen niemand. Nachdenklich begann sie zu erzählen: »Wir haben uns im Frühling ’64 kennen gelernt, Richard und ich. Er kam wie ein Schneetreiben an einem Aprilabend über mich, wie Strindberg es in ›Die Leute auf Hemsö‹ schreibt. Ich war zweiundzwanzig und er achtundzwanzig. Ich ging seit einem Jahr auf die Hochschule für Sozialwesen und fühlte mich in Stockholm nicht wohl. Wenn man in Härnösand geboren und aufgewachsen ist, bedeutet Stockholm eine enorme Umstellung. Einige blühen auf und kriegen einen richtigen Kick. Andere sehnen sich nur noch zurück. So wie ich.«
Erst jetzt bemerkte Irene die leicht ångermanländische Melodie in Monas Sprache. Anfangs hatte sie nur ein gepflegtes Reichsschwedisch gehört, aber dieser nordländische Hauch lag wie ein angenehmer Unterton hinter den Worten.
»Aber für mich gab es nichts, wohin ich hätte zurückgehen können. Mein Vater starb bei einem Sägewerkunglück, als ich fünfzehn war. Meine Mutter lernte einen anderen Mann kennen. Sie heiratete ihn und zog mit ihm und meinen beiden kleineren Geschwistern nach Umeå. Ich blieb damals in Härnösand zurück, hatte ein Zimmer bei der Cousine meiner Mutter und ihrem Mann, bis ich das Gymnasium beendet hatte. In einem Anfall von Übermut schrieb ich auf eine Annonce: ›sprachbegabte junge Dame fürs Büro gesucht‹. In Stockholm. Ich fiel fast in Ohnmacht, als sie mich anriefen und sagten, ich könnte im August anfangen. Ich fand ein Zimmer zur Untermiete bei einer alte Dame in der Birger Jarlsgatan. Ein trübsinniger kleiner Raum, der auf den Hinterhof hinausging. Aber er war billig und passte zu meinem bescheidenen Lohn.«
Mona unterbrach sich, um zu husten. Sie nahm einen Schluck von dem lauwarmen Kaffee, um die Stimme wieder zu reinigen. Nach einem tiefen, gierigen Zug an dem Zigarillo fuhr sie fort: »Der Job war schlimm. Nach einem Jahr hatte ich genug und bewarb mich an der Hochschule für Sozialwesen. Alle bewarben sich damals an der Hochschule für Sozialwesen! Aber mit meinen Zensuren war das kein Problem, ich wurde aufgenommen. Schon nach dem ersten Semester war mir klar, dass ich mir nicht vorstellen konnte, in einem Sozialamt zu sitzen. Kaputte Existenzen mit milden Gaben zu beglücken, das sollten lieber andere tun. Ich merkte, dass ich nicht der Typ bin, der sich dafür ausreichend engagieren konnte. Ich hatte genug mit mir selbst zu tun.«
Sie verstummte und trank den Rest ihres Cognacs aus. Irene war fasziniert. Es war schwer, sich diese weltgewandte und selbstsichere Frau, die eine natürliche Autorität ausstrahlte, als einsame und unsichere Studentin in der großen Stadt vorzustellen. Aber sie musste schon damals genau gewusst haben, was sie wollte.
»Meine Studienkollegen waren Kommunisten des äußersten linken
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