Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
Sohn jetzt tot«, sagte Shūsaku. »Tarō hat ihn klar besiegt. Unseren Regeln zufolge müsste der Kleine Kawabata jetzt noch hingerichtet werden.«
Kawabata bewegte stumm die Lippen. Die anderen Zuschauer hatten sich zu ihnen umgedreht und beobachteten das Drama, das sich da abspielte. Der Anführer wollte protestieren, doch Tarō schnitt ihm das Wort ab. »Ich glaube«, sagte er, »dass der Kleine Kawabata sich von seinem Verbrechen reingewaschen hat. Die Regeln schreiben vor, dass einer von uns sterben muss. Der Kleine Kawabata ist gestorben. Als ich ihn verwandelt habe, hat er nicht mehr geatmet.«
Kawabata starrte Tarō an. »Er hat versucht, dich umzubringen. Weshalb solltest du ihn verschonen?«
Das wusste Tarō selbst nicht so recht. Die Antwort erschien ihm so umfassend wie sein eigenes Wesen. Es war vor allem die Überzeugung – so sehr Bestandteil seiner selbst wie seine Knochen, Muskeln und Sehnen –, dass er den Tod des anderen Jungen nicht verursachen sollte. Er hatte noch gar nicht bewusst darüber nachgedacht. »Ich finde … ich fand einfach, dass er den Tod nicht verdient hat. Was er mir angetan hat, war schlimm, aber …«
»Aber was?«, drängte Kawabata.
»Aber ich glaube, das war er im Grunde gar nicht.«
»Wie meinst du das?«, fragte Shūsaku.
»Sein Vater hasst dich. Man könnte also sagen, dass sein Zorn gar nicht sein eigener war. Er hat ihn geerbt. Und das bedeutet, dass er nicht mit Absicht grausam gehandelt hat. Er verdient Gnade.«
Der Kleine Kawabata starrte ihn die ganze Zeit über an, und Tarō wusste nicht, was der Junge dachte. Hasste er Tarō jetzt, da der ihn gerettet hatte, womöglich noch mehr? Tarō hätte es dem Jungen zugetraut, das als Demütigung zu betrachten, der er den Tod vorgezogen hätte.
Doch Tarō konnte sich darüber jetzt keine Gedanken machen. Er hatte das getan, was ihm richtig erschienen war, und das war alles, was zählte. Wenn der Kleine Kawabata beschloss, es zum Anlass neuer Feindseligkeit zu machen und nach Rache zu dürsten, dann konnte Tarō daran nichts ändern.
Shūsaku starrte ihn ebenfalls an. »Du überraschst mich immer wieder, Junge.«
Kawabata wandte sich voller Abscheu von Tarō ab – und von seinem Sohn. »Gnade erweist man Bauern«, sagte er. »Ein Ninja hat sie nicht nötig.«
»Dennoch«, sagte Shūsaku, »könnt Ihr nicht leugnen, dass die Regeln eingehalten wurden.«
Kawabata funkelte ihn mit wutverzerrtem Gesicht an, und Tarō hatte den Eindruck, dass er nach einem Einwand gegen den Ausgang des Kampfes suchte. Doch offenbar fand er keinen, denn schließlich nickte er. »Die Angelegenheit ist damit wohl erledigt«, sagte er. Dann wandte er sich ab und ging davon, ohne seinen frisch verwandelten Sohn noch eines Blickes zu würdigen.
»Vater!«, rief der Kleine Kawabata und eilte ihm nach. Doch sein Vater drehte sich nicht um.
Auf dem Weg zum Höhleneingang hielt der Kleine Kawabata kurz inne und blickte zu Tarō zurück. »Ich …«, begann er, um den Mund sogleich wieder zu schließen. Er runzelte die Stirn und konnte seinen Satz nicht zu Ende bringen, und gleich darauf war er verschwunden.
»Aha«, sagte Shūsaku. »Nun, die Gnade muss sich wohl selbst Lohn genug sein.«
Kapitel 54
Als Tarō und seine Freunde in dieser Nacht jeden Augenblick des Kampfes noch einmal durchsprachen und nacherlebten, kam Shūsaku zu ihnen in die Waffenkammer. Er hielt eine Taube in der Hand. Er ließ sie los, und sie flatterte empor zum Dach der Höhle, wo sie sich auf einem Felsvorsprung niederließ und zu putzen begann. Shūsaku entrollte einen kleinen Zettel. »Ich habe soeben diese Botschaft erhalten.«
Tarō sprang auf. » Von meiner Mutter?« Doch noch während er die Frage aussprach, fiel sein Blick auf die weiße Brust der Taube, die ihre Federn zurechtzupfte. Er konnte sich nicht erinnern, dass die Taube, die Shūsaku seiner Mutter gegeben hatte, so einen weißen Fleck gehabt hätte. Diese Taube war grau gewesen, mit schwarzen Sprenkeln.
Aber vielleicht habe ich sie in der dunklen Hütte nur nicht richtig gesehen , dachte er verzweifelt.
Shūsaku sah ihn an. »Nein. Es tut mir aufrichtig leid.«
Tarō fühlte sich, als hätte er einen Klumpen Eis verschluckt.
»Du wirst sie schon noch finden«, sagte Yukiko. »Da bin ich sicher.«
Tarō lächelte schwach. »Ja. Hoffentlich.« Er wandte sich wieder Shūsaku zu. »Also, was ist das für eine Botschaft, wenn sie nicht von ihr kommt?«
Shūsaku hielt sie hoch.
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