Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
dann würde er sich auf die Suche nach jenen machen, die Arme und Schwache quälten, und er würde sie zur Rechenschaft ziehen.
Kapitel 16
Die Wolken vor dem abnehmenden Mond verzogen sich, und die Welt wurde in schwaches Licht getaucht.
Tarō gefiel dieses Wanderleben immer besser. Seine Muskeln waren straff vom Marschieren, und die Reise gab ihm das Gefühl, ein Ziel zu haben, wie er es noch nie erlebt hatte. Shūsaku deutete auf den Rauch, der hinter einem Wäldchen aufstieg. »Da ist das Dorf, in dem die Äbtissin lebt. Wir bleiben ein, zwei Tage bei ihr. Von hier aus ist es nur ein Nachtmarsch bis zu dem Berg, auf dem ich lebe.«
Wenn sie den Berg erreichten, würden sie mit etwas Glück erfahren, wo seine Mutter sich versteckt hatte, das wusste Tarō. Trotzdem empfand er eine schuldbewusste Enttäuschung. Er liebte das Leben auf dem offenen Land. Das Blut eines Kaninchens von seiner gestrigen Mahlzeit sang noch in seinen Adern. Das war nicht genug, um ihn lange zu ernähren, doch immerhin nagte kein Hunger in seinem Bauch. Der Boden unter seinen Füßen federte, als wollte er ihm helfen, rasch voranzukommen.
Als sie sich dem kleinen Dorf näherten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als unter den Bäumen hervorzutreten und die Straße zu benutzen, aber ihre Begegnung mit Kira Kenji lag weit zurück, und er war in die Gegenrichtung davongeritten. Shūsaku war sicher, dass sie das Dorf gefahrlos betreten konnten – und außerdem mussten sie irgendwo unterkommen, ehe sie zu seinem Berg weitergehen konnten. Tarō brauchte eine neue Sehne für seinen Bogen, und sie alle brauchten frische Kleidung. Tarō trug noch immer die viel zu lange Hose und den Kimono des Botschafters, dessen Sänfte sie gestohlen hatten.
Als sie an den ersten Häusern vorbeikamen, blickte Tarō sich nach den blauen Laternen um. Während die Ebene um Nagoya halb menschenleer gewesen war, wirkte dieses Dorf warm und einladend. Rauch stieg von den kleinen Häusern auf, die alle bewohnt zu sein schienen. An den Giebeln der Dächer hingen Windspiele, die böse Geister abwehren sollten und in der Brise leise klingelten.
Während sie unterwegs gewesen waren, hatte das Obon-Fest seinen Höhepunkt erreicht. In jedem Fenster brannte ein Licht, das verstorbenen Angehörigen den Weg nach Hause zeigen sollte. Tarō sehnte sich auf einmal nach seinem alten Leben, nach seiner Mutter, die ihn stets um Hilfe dabei gebeten hatte, das Essen für die Geister zu sammeln und herzurichten. Sie hatten Schalen mit Reis auf den Hausaltar gestellt und die Obon-Laterne gemeinsam angezündet.
Er fragte sich, ob irgendjemand in der Hütte an der Küste, in Shirahama, eine Laterne für seinen Vater entzünden würde.
Shūsaku schlich im Schein der Laternen auf die Häuser am Rand des Dorfes zu. So leiteten die Papierlaternen einen anderen Geist als diejenigen, für die sie gedacht waren.
Tarō und Hirō folgten ihm. Ihre Sinne wurden immer schärfer, und inzwischen konnten sie sich beinahe so lautlos fortbewegen wie der Ninja. Dann trieb eine leise Melodie durch die Nachtluft zu ihnen herüber – ein Mädchen sang das Obon-Lied.
Obon ist eine frohe Zeit!
Heute kehren meine Lieben
Die fortgegangen sind –
Selbst sie kehren heute heim.
Shūsaku hielt inne und lauschte. »Das ist Yukiko«, sagte er. Er führte Tarō und Hirō eine Seitengasse entlang zu einer Tür in einer Mauer. Hier war der Gesang lauter, und Tarō hörte ein zweites Mädchen einstimmen. »Und das ist Heikō«, sagte Shūsaku. »Ihre Schwester.« Er blickte in beide Richtungen die Gasse entlang, um sich zu vergewissern, dass niemand sie beobachtete. Dann zog er das lange schwarze Tuch aus einer Falte seines Kimono und legte seine Maske wieder an.
»Hast du nicht gesagt, dass du diese Leute kennst?«, bemerkte Tarō.
»Allerdings. Aber sie wissen nicht, dass ich tätowiert bin. Das ist eine lange Geschichte.« Shūsaku zupfte den schwarzen Stoff zurecht und schob dann sachte die Tür auf.
Was Tarō dahinter sah, erschien ihm wie eine Szene aus einem Ukiyo-e-Gemälde, und er konnte ein leises Keuchen nicht unterdrücken. Im Mondschein hätte der Garten auch ein Traum sein können. Die Miniatur-Landschaft mit Teich, Bach und Bäumen erschien im bläulichen Licht perfekt und strahlend, und Tarō hatte das Gefühl, dass er verschwinden könnte, wenn er sie betrat – dass er selbst sich als nichts als eine Illusion erweisen könnte, von einem verspielten Geist in die Luft
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