Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
eine Mauer emporklettern und einer Zielperson die Kehle durchschneiden wie ein Mann.
Außerdem gewann Yukiko immer wieder.
»Und du?«, fragte Tarō. »Möchtest du nicht verwandelt werden?«
Heikō tauchte ihren Pinsel in die Tinte und malte geschickt ein paar Striche aufs Papier. Sie hatte ihm erzählt, dass Shūsaku Kalligrafie als Übung für den Schwertkampf sehr befürwortete. Tarō hatte sich anfangs darüber gewundert, was diese gelehrte Beschäftigung mit einem Kampftraining zu tun haben sollte, doch nun sah er, wie Heikōs flinke Handbewegungen – der Pinsel tanzte nur so übers Papier – ebenso dazu geeignet wären, ein Schwert zu führen.
Sie hielt das Blatt hoch, knüllte es dann zusammen und warf es beiseite. Tarō konnte nicht erkennen, was daran schlecht gewesen sein sollte. »Ich werde eines Tages eine Ninja sein«, erklärte sie. »Dafür habe ich mein Leben lang geübt. Aber ich habe es nicht eilig, mein Leben als Mädchen aufzugeben. Nichts mehr essen zu können und mich von Menschenblut zu ernähren …« Sie verzog das Gesicht und schlug dann die Hand vor den Mund. »Entschuldigung«, sagte sie. »Ich wollte dich nicht beleidigen.«
»Ich hätte mir das auch nicht freiwillig ausgesucht«, erwiderte Tarō. Er hatte das Schweineblut getrunken, das Heikō ihm gegeben hatte – sie, Hirō und Yukiko hatten Suppe gegessen. Das hatte ihn zwar gestärkt, doch er hatte die Fingernägel in die Handfläche gebohrt, als das warme, glitschige Blut durch seine Kehle geronnen war.
Wesentlich angenehmer war das Bad gewesen. Er und Hirō hatten ihre schmerzenden Leiber in einem Zuber voll sehr heißem Wasser ausgestreckt, den die Mädchen für sie gefüllt hatten, um sich dann kichernd in einen anderen Raum zurückzuziehen. Tarō hatte nicht mehr in heißem Wasser gebadet, seit er und seine Mutter ein paar Tage vor dem Überfall die Onsen, die heißen Quellen in der Nähe von Shirahama, besucht hatten. Er hatte das Bad auch hier genossen, doch ein kleiner Teil von ihm, tief in seinem Inneren, war kalt geblieben. Er wusste, dass dieser Teil nicht wieder warm werden konnte, bis er seine Mutter wiedersah und sich vergewissert hatte, dass sie in Sicherheit war.
Bis sie aus dem Zuber gestiegen waren, hatten die Mädchen frische Kleider für ihn und Hirō herausgelegt, und nun saß Tarō neben Heikō auf dem Boden, in einem Kimono, der glücklicherweise ungefähr die richtige Größe hatte. Tarō umschlang die Knie mit den Armen und freute sich an dem Gefühl, aufgewärmt und sauber zu sein. Draußen hörte er Yukiko sagen: »Ich mache dir einen Vorschlag. Ich will nachsichtig mit dir sein. Wenn du mich in einer von fünf Runden schlagen kannst, darfst du für den Rest des Jahres mein Diener sein. Du kannst mir Tee und Erfrischungen bringen.«
Hirō schnalzte mit der Zunge. »Für so ein kleines Schilfrohr nimmst du den Mund ziemlich voll.« Doch er keuchte, und Tarō lächelte. Yukiko war offenbar eine furchterregende Gegnerin.
»Sie wird ihm doch nichts brechen, oder?«, frage er Heikō.
Sie grinste. »Nein. Aber wahrscheinlich wird ihm eine Zeitlang alles wehtun. Sei froh, dass du hier drin bei mir bist. Beim Schreiben wirst du dich nicht so leicht verletzen.« Sie wirbelte den Pinsel zwischen den Fingern herum, tauchte ihn in die Tinte und begann das Kanji-Zeichen noch einmal von vorn.
»Was bedeutet das?«, fragte Tarō.
»Das heißt Shūsaku. Ich will es ihm schenken. Und ihm damit zeigen, welche Fortschritte ich gemacht habe.«
Tarō nickte. »Darüber wird er sich freuen.«
»Das hoffe ich.«
»Ist er … euer Onkel?«, fragte Tarō. Er war sicher, dass Shūsaku nicht der Vater der Mädchen war, doch er trat ihnen gegenüber liebevoll und beschützend auf, wie ein Verwandter, der eine gewisse Autorität besaß.
»Nein!«, antwortete Heikō. »Er hat uns das Leben gerettet, als wir noch ganz klein waren. Da war er selbst gerade erst zum Vampir geworden.«
Das überraschte Tarō. »Er war nicht schon immer ein Vampir?«
»Niemand kommt als Vampir auf die Welt. Man muss verwandelt werden, so wie du. Vorher war er ein Samurai.«
Tarō starrte sie an. »Ein Samurai? Shūsaku?«
»Ja.« Sie hielt den Pinsel hoch. »Was glaubst du, wie viele Ninja Kalligrafie lehren?«
Tarō ließ sich auf die Fersen zurücksinken. Er konnte Shūsaku nicht anders betrachten denn als einsamen Ninja, der im Dunkeln durch die Landschaft schlich. Er konnte sich ihn nicht zu Pferde vorstellen, mit einer
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