Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
Shūsaku. »Dann ist es ja gut, dass wir dem Berg schon so nah sind.« Er überlegte kurz. »Aber sicherheitshalber werde ich die Umgebung absuchen. Die Sonne ist noch nicht hell genug, um mir zu schaden.« Er wickelte sich seine Tücher ums Gesicht und ging zum Höhleneingang. »Ich bin gleich zurück.«
Tarō nickte geistesabwesend. Er setzte sich auf einen Felsbrocken und nahm den Bogen von der Schulter. Probeweise ließ er die Sehne schnellen und strich dann mit den Fingern am Korpus entlang. Er war nicht verzogen. Gut. Der erste Pfeil, den er auf den Rōnin abgeschossen hatte, war ganz leicht nach links abgewichen, und er hatte schon befürchtet, der Bogen selbst könnte durch das Salzwasser Schaden genommen haben. Er legte ihn beiseite und holte die Pfeile, die er aus den Leichen der Männer gezogen hatte, aus seinem Köcher. Zwar hatte er sie schon im feuchten Gras gereinigt, doch jetzt überprüfte er die Steuerfedern und Pfeilspitzen, um sich zu vergewissern, dass sie gerade fliegen würden. Er nahm den Bogen wieder zur Hand, legte einen der Pfeile an und zielte daran entlang.
Gut.
Er legte den Bogen beiseite und steckte die Pfeile wieder in den Köcher. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Heikō sich neben ihn setzte. Sie war offenbar so in der Betrachtung seines Bogens versunken, dass sie sich keine Gedanken mehr um den feuchten Stein an ihren Kleidern machte. Yukiko und Hirō rangen am Höhleneingang miteinander und versuchten, sich gegenseitig in den Bach zu stoßen.
»Ich wünschte, sie würden das lassen«, bemerkte Heikō. »Am Ende wird noch jemand verletzt.«
»Ja«, sagte Tarō. »Es ist nicht fair, mit einem so viel schwächeren Gegner zu kämpfen. Du solltest deine Schwester wirklich ermahnen, sanft mit ihm umzugehen.«
Heikō lachte. »Sie hört doch nicht auf mich.«
»Nein. Er auch nicht. Das ist ja das Problem.«
Heikō wandte sich von den beiden Ringern ab und betrachtete bewundernd den Bogen.
»Das ist ein sehr schön gearbeitetes Stück«, sagte sie.
»Danke. Mein Vater hat ihn gemacht.«
Da Tarō nun sicher war, dass die Pfeile gerade fliegen würden, legte er den Köcher beiseite. Doch als er sich Heikō zuwandte, musterte sie die Innenseite eines Wurfarms mit tiefem Stirnrunzeln.
»Was ist denn?«, fragte Tarō.
»Dieses Symbol …«
Sie betrachtete das kleine Emblem, das auf der Innenseite des Bogens eingeschnitzt war, den Kreis mit den Malvenblättern.
»Weißt du, was das ist?«, fragte Tarō begierig. »Ich habe meine Mutter danach gefragt, aber –«
Heikō legte ihm mit nachdenklich gerunzelten Brauen eine Hand auf den Arm. »Tarō. Das ist das Mon des Hauses Tokugawa.«
Kapitel 29
Tarō schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Mein Vater hat diesen Bogen gemacht.« Doch etwas rumorte in seinem Hinterkopf. Es fühlte sich an, als krabbelte eine rastlose Maus in seinem Schädel immerzu im Kreis herum. Zum ersten Mal gestattete Tarō sich einen Gedanken, den er bisher stets unterdrückt hatte: Was, wenn er diesen Bogen doch nicht gemacht hat?
Da war noch etwas – sein Bogen war nicht der einzige Gegenstand mit diesem Symbol. Auch Shūsakus Schwert trug dieses Zeichen.
Arbeitete Shūsaku für den Daimyō Tokugawa? Oder hatte er das Schwert nur irgendwo gestohlen?
»Vielleicht hat dein Vater ihn tatsächlich geschnitzt«, sagte Heikō versöhnlich. Sie schürzte die Lippen und schaute zweifelnd drein. »Oder vielleicht … hat er ihn gestohlen?«
»Mein Vater ist kein Dieb! Ich meine, er war kein Dieb.«
Heikō wirkte bestürzt. »Oh, bitte entschuldige. Ich habe nicht daran gedacht, dass er – ich meine …« Sie blickte zu Boden. Tarō begann seinerseits eine Entschuldigung zu stammeln, doch sie legte ihm die Hände auf die Schultern. »Es tut mir aufrichtig leid. Ich weiß, wie es ist, die Eltern zu verlieren.«
Tarō lächelte. »Keine Sorge. Du hast mich nicht beleidigt. Das war eigentlich eine ganz logische Frage.«
Heikō drehte den Bogen in den Händen herum. »Er muss einmal einem der Tokugawa-Fürsten gehört haben, oder zumindest einem ihrer Samurai«, sagte Heikō, während sie den Bogen untersuchte. »Ich frage mich, wie dein Vater daran gekommen ist. Hat er vielleicht dem Daimyō Tokugawa gedient?«
Tarō dachte an das, was er im Haus der Äbtissin durch die Papierwand gehört hatte – die Geschichte über den Versuch des Fürsten Tokugawa, den Daimyō Oda ermorden zu lassen. Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Wir sind
Weitere Kostenlose Bücher