Der Oligarch
Geschwindigkeit von der St. Clement’s Street heranrasen. Der Fahrer hatte breite Schultern und hielt das Lenkrad gelassen mit beiden Händen fest. Gleich hinter ihm ragte etwas, das Gabriel sofort erkannte, aus dem offenen Fenster: eine großkalibrige Pistole mit aufgesetztem Schalldämpfer.
Sie saßen in der Falle – genau wie Grigorij vor ihnen. Aber dies war keine Entführung. Hier sollte jemand liquidiert werden. Damit sie die nächsten zehn Sekunden überlebten, musste Gabriel die Rolle des Verteidigers spielen, etwas, was allem widersprach, was er in seiner Ausbildung und während seines jahrzehntelangen Trainings gelernt hatte. Leider blieb ihm nichts anderes übrig. Er war unbewaffnet nach Oxford gekommen.
Er trat einen Schritt zurück und versetzte der Haustür einen gewaltigen Tritt. Aber sie bestand aus massivem Holz und hatte ein altmodisches Schloss, das nicht so leicht nachgab. Ein Blick nach links zeigte ihm den winzigen mit Kies bestreuten Vorgarten. Als der erste Schuss die Fassade des Hauses traf, packte er Olga am Arm und riss sie hinter der niedrigen Ziegelmauer mit sich zu Boden.
Die Schießerei dauerte nur fünf Sekunden – ein einziges Magazin mit sieben Schuss, dachte Gabriel –, und der Fahrer hielt nicht an, damit der Schütze nachladen oder die Pistole wechseln konnte. Als der Wagen um die leichte Linkskurve verschwand, hob Gabriel den Kopf. So konnte er Marke und Modell identifizieren.
Vauxhall Insignia.
Eine viertürige Limousine.
Dunkelblau.
Die Farbe heißt Meteo Blue, glaube ich.
»Sie erdrücken mich.«
»Alles in Ordnung?«
»Ich denke schon. Aber erinnern Sie mich daran, dass ich mich nie mehr von Ihnen nach Hause begleiten lasse.«
Gabriel blieb noch eine Sekunde liegen, dann stand er auf und versetzte der Haustür einen erneuten Tritt, der, durch Adrenalin und Zorn angefacht, noch kräftiger ausfiel. Diesmal gab das Schloss nach, und die Tür flog wie aufgesprengt nach innen auf. Als er vorsichtig in die Diele trat, blickte Gabriel in zwei Katzenaugen, die ihn vom Fuß der Treppe aus gelassen beobachteten. Olga riss ihre Katze hoch und hielt sie fest an sich gedrückt.
»Ohne sie gehe ich nicht fort!«
»Aber beeilen Sie sich, Miss Tschesnikowa. Ich möchte weg sein, wenn die Leute mit der Pistole zurückkommen, um ihren Job zu Ende zu bringen.«
TEIL II
A NATOLI
20 D AS M ARAIS , P ARIS
Das als Marais bekannte Pariser Stadtviertel liegt auf dem rechten Seineufer und gehört sowohl zum dritten als auch zum vierten Arrondissement. Dieses ehemalige Sumpfgebiet ist zu Zeiten der Monarchie ein bevorzugtes Wohngebiet gewesen, nach der Revolution ein Arbeiterklassen-Slum und im 20. Jahrhundert das dynamischste jüdische Viertel der Hauptstadt. Nachdem es im Zweiten Weltkrieg Schauplatz der albtraumhaften Verschleppung der Pariser Juden durch die deutsche Besatzungsmacht gewesen war, kam es immer weiter herunter, bis staatliche Maßnahmen Anfang der sechziger Jahre den Niedergang stoppten. Seither hat sich das Marais in eines der bevorzugten Viertel der Stadt mit exklusiven Geschäften, Museen und chicen Restaurants verwandelt. In einem dieser Restaurants in der Rue des Archives wartete Uzi Navot am nächsten Mittag. Er trug einen Rollkragenpullover, der den wenig schmeichelhaften Eindruck erweckte, sein Kopf sei direkt auf die Schultern geschraubt. Er sah kaum auf, als Gabriel und Olga sich an seinen Tisch setzten.
Sie waren am Abend zuvor kurz nach 22 Uhr in Paris angekommen und in einem schäbigen kleinen Transithotel gegenüber der Gare du Nord abgestiegen. Ihre Reise war glatt verlaufen; unterwegs hatte es keine weiteren Angriffe von russischen Attentätern gegeben, und Olgas Siamkatze hatte sich im Zug von Oxford zum Bahnhof Paddington mustergültig betragen. Weil die Mitnahme von Haustieren im Eurostar verboten war, hatte Gabriel in London eine Unterkunft für Cassandra suchen müssen. Also war er mit ihr zu einer Galerie in St. James’s gefahren, die einem Mann namens Julian Isherwood gehörte. Im Lauf der Jahre hatte Isherwood wegen seiner heimlichen Verbindung zum Dienst viele Demütigungen hinnehmen müssen, aber ohne Vorwarnung die Katze einer Unbekannten aufnehmen zu sollen, sei die äußerste Demütigung, behauptete er. Seine Laune änderte sich jedoch schlagartig, als er Olga zu Gesicht bekam. Gabriel hatte gewusst, dass das passieren würde. Denn Julian Isherwood hatte eine Schwäche für drei Dinge: italienische Gemälde, französische Weine und
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