Der Orksammler
das? Die Toten werden doch ohne Ausnahme eingeäschert.«
»Richtig. Aber in den Anfangstagen liefen die Dinge hier noch nicht so routiniert ab wie heute.« Wylfgung stellte das Glas beiseite und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Die Ewige Flamme wies bei ihrer Inbetriebnahme anno 2511 des ersten Zyklus lediglich ein Drittel ihrer heutigen Brennkraft auf. Auch der Torrlem-Express verkehrte zu Beginn noch nicht regelmäßig.« Meister Wylfgung verstummte und schloss für einen Moment sinnend die Augen.
Hippolit nutzte die Gelegenheit und probierte einen Schluck von seinem alkoholbefreiten Getränk. Der vollmundige, schwere Geschmack des Ports traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Mit aufgerissenen Augen deutete er auf das Glas. »Sagte Ihre Sekretärin nicht, dieser Wein sei …«
»Oh, natürlich.« Meister Wylfgung grinste verschmitzt. »Offiziell enthält dieser Portwein keinen Alkohol mehr. Aber zuweilen muss man sich die Freiheit nehmen, die Regeln ein wenig zu beugen, finde ich. Wenn Sie verstehen, was ich meine?«
»Quintessenziell.« Hippolit stellte das Glas zurück auf den Tisch und räusperte sich umständlich. »Zurück zu den Katakomben.«
»Ah ja, genau. Wie gesagt, die Infrastruktur zur Entsorgung der Toten war nicht von Anfang an vorhanden. Eine Folge der geringeren Kapazitäten war, dass zeitweilig größere Mengen Leichname bis zu ihrer Einäscherung zwischengelagert werden mussten. Zunächst erwog man oberirdische Silos, befand dann aber, dass die Lebensqualität der Bürger durch den Ascheregen, den ständig erleuchteten Nachthimmel und die sporadisch auftretenden Pannen bei Anlieferung und Weiterverarbeitung der Toten bereits eingeschränkt genug sei.« Der Verwalter zwinkerte Hippolit zu. »Sie müssen wissen: Die Krone investiert horrende Summen, um diesen gigantischen Hochofen hier zu betreiben. Noch der niederste Ascheschaufler wird maßlos überbezahlt -eine Notwendigkeit, um die Arbeiter hier draußen im Nirgendwo zu binden.« Er griff erneut zu seinem Glas. »Eine oberirdische Lagerung der Toten, quasi Wand an Wand mit den Lebenden, hätte die Dinge verkompliziert, soll heißen: weiter verteuert. Daher legte man die Katakomben an, unterirdische Lagerhallen, die acht Stockwerke weit in die Tiefe reichen.« Er deutete auf Hippolits fast volles Glas. »Aber warum trinken Sie denn nicht? Sagt Ihnen dieser erlesene Tropfen etwa nicht zu? Möchten Sie etwas anderes?«
»Danke, der Port ist vorzüglich. Ich muss nur etwas aufpassen mit dem … Acht Stockwerke tief, sagen Sie?« Hippolit schluckte. Das versprach eine Suche nach dem sprichwörtlichen ausgeschlagenen Schneidezahn auf dreckigem Kneipenboden zu werden, wie Jorge es ausgedrückt hätte. »Was befindet sich heute in diesen Katakomben?«
»Nichts mehr. Sie stehen leer. Seit der vierten und bislang letzten Revision der Ewigen Flamme im Jahre 2314 des Dritten Zyklus können wir die Anlieferungen jedes Zenits ohne Zwischenlagerung aufnehmen und verarbeiten. In Stoßzeiten, wenn irgendwo ein Krieg oder eine Seuche ausbricht, kann zusätzlich die oberste Etage der Katakomben in Betrieb genommen werden. Aber gegenwärtig werden Sie dort unten nichts finden außer nachtschwarzer Finsternis und jeder Menge Ungeziefer.«
Hippolit seufzte. Das klang exakt nach der Art Versteck, die sich der mysteriöse Orkmörder aussuchen würde! Er spürte, wie die Ader an seiner Schläfe sanft zu pochen begann. Rasch griff er zu seinem Glas und leerte es in einem Zug. »Gibt es Aufzeichnungen über diese unterirdischen Anlagen? Karten, Baupläne?«
»Selbstverständlich.« Beflissen beugte sich Meister Wylfgung über den Schreibtisch, um Hippolits Glas aufzufüllen, doch dieser legte abwehrend eine Hand darüber.
»Torrlem verfügt über ein umfangreiches Archiv. Sämtliche Dokumente aus der Historie der Stadt, vom allerersten Auftragsschreiben Verhindars II. an Meister Derckh bis hin zu den Ergebnissen der neuesten Einstellungstests für den Rat der Achtzig werden dort aufbewahrt. Jede noch so irrelevante handschriftliche Eingabe von Bürgerseite landet dort, jede Beschwerde über Geruchsbelästigung in der Nähe des Verladebahnhofs, wenn die Thaumaturgen in Thamis wieder mal mit der Stasis der Waggons geschludert haben, jede …«
»Mich interessieren nur die Pläne der Katakomben. Und die der Kanäle.« Schwindel überkam Hippolit. Er verfluchte sich und den unüberlegten Reflex, das ganze Glas zu leeren.
Meister Wylfgung sah ihn prüfend an,
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