Der Pakt
»Kommt herein.«
»Stellas?«, fragte GroÃmutter Tess.
»Es sind meine«, beharrte Sin starrköpfig. »Mein Bruder und meine Schwester. Das ist Lydie und das ist Toby.«
»Kommt herein«, forderte Dad sie ein zweites Mal auf. »Allesamt.«
Grandma Tess winkte sie herein und Dad trat beiseite, um sie hereinzulassen. Vor der Treppe blieben sie stehen.
»Du heiÃt also Lydia?«, fragte Sins GroÃmutter.
»Lydie«, antwortete diese fest.
»Du siehst furchtbar aus. Wer hat sich denn um dich gekümmert?«
»Sin kümmert sich um uns«, antwortete Lydie und reckte das Kinn vor. »Sin kümmert sich sehr gut um uns.«
Das war keineswegs das, was Sin ihr beigebracht hatte, zu sagen, falls jemand danach fragen sollte. Die einstudierte Antwort enthielt eine vage Anspielung auf Merris als ihren Vormund. Sin schämte sich, dass ihre kleine Schwester ihre Rolle so schlecht gelernt hatte.
»Nun«, meinte GroÃmutter Tess und streckte die Hand aus. »Dann wollen wir dir mal das Gesicht waschen gehen. Ich habe noch ein paar Sachen von Thea aus der Zeit, als sie so alt war wie du. Sollen wir dir ein hübsches Kleid aussuchen?«
Sie kam die Treppe herunter und nach kurzer Ãberlegung ergriff Lydie ihre Hand.
Als Sin in Lydies Alter gewesen war und ihre Eltern noch zusammen gewesen waren, hatte GroÃmutter Tess sie am liebsten gemocht. Sie konnte sie verwöhnen, Essen für die Familie zubereiten und noch weitere Enkel erwarten.
»Thea, gib mir das Kind. Ich weià gar nicht, warum du ihn so hältst«, verlangte GroÃmutter Tess und nahm Toby auf den Arm. Einen Augenblick lang wirkte er unsicher, dann grabschte er nach ihrer Brille.
Sin hatte nicht erwartet, dass das Verlangen ihrer GroÃmutter nach weiteren Enkeln alles andere überdecken würde.
»Warum hast du mir nichts von ihnen erzählt?«, fragte ihr Vater.
Die Erleichterung schwand, es war der Augenblick der Wahrheit gekommen, vor dem sie sich nicht verstecken konnte. Es gab keine Dämonen, auf die sie aufpassen musste. Lydie und Toby waren oben und mussten nicht beruhigt werden.
»Es tut mir leid«, erwiderte Sin und sah die Treppe hinauf, um ihm nicht ins Gesicht sehen zu müssen. »Ich dachte ⦠ich dachte, du müsstest es nie erfahren. Ich dachte, dass es so für dich am besten wäre. Ich weiÃ, dass ich dich gekränkt habe, weil ich nie auch nur zum Essen bleiben wollte, aber ich musste doch zu ihnen, sie sind alles, was ich habe, ich bin für sie verantwortlich. Es war nicht, weil ich etwas Besseres vorhatte. Mir liegt etwas an dir. Wirklich. Es tut mir leid.«
Sie spürte, wie er sie sanft an der Schulter fasste und herumdrehte. Vorsichtig berührte er ihr Gesicht, Buchhalterhände, die noch nie ein Messer oder eine Waffe gehalten hatten, und sie stellte fest, dass sie weinte.
»Mein tapferes Mädchen«, sagte er. »Du hättest es mir sagen sollen, dann hätte ich dir helfen können.«
»Können sie bei dir bleiben?«, fragte Sin. »Ich komme wieder, das verspreche ich. Ich werde uns eine Wohnung besorgen. Ich kann mich um sie kümmern. Ich weià nur nicht, wo ich sie im Moment in Sicherheit bringen kann, ich weià nicht, was ich sonst tun soll. Kannst du sie für eine kleine Weile nehmen?«
»Natürlich«, antwortete Dad. »Aber du wirst keine Wohnung bekommen, Cynthia. Du bist erst sechzehn. Sie können bei uns bleiben. Wir können alle zusammen hier wohnen. Du bist hier in Sicherheit.«
Sie trat näher zu ihm. Er war genauso groà wie sie, sodass sie den Kopf neigen und auf seine Schulter legen konnte. Sein Wollpullover schmiegte sich weich an ihre Wange, und plötzlich war er wieder der Vater aus ihrer Kindheit, das Zentrum, um das sie mit ihrer Mutter gekreist war, der Anker, ohne den Mama den Halt verloren hätte.
So einfach war das also. Sie hätte es nicht für möglich gehalten. Dad war gegangen und Victor war gegangen und jetzt war auch Merris gegangen. Sin hatte sich nur auf sich selbst verlassen können. Wäre sie nach der Zeit im Haus des Mezentius damals zu Dad gekommen, hätten sie das letzte Jahr alle in Sicherheit verbringen können.
Es wäre alles so einfach gewesen. Doch wenn sie das getan hätte, hätte sie nie erfahren, zu was sie alles fähig war. Sie war ebenso die Tochter ihres Vaters wie die ihrer Mutter. Sie konnte
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