Der Pakt der Wächter: Roman
Runenspuren zwischen den Schnitzereien oder versteckte Codes in den gemalten Ornamenten.
»Ich weiß ja nicht, ob es von Bedeutung ist«, sagt der Pfarrer, als wir eine Kaffeepause machen, »aber eine unserer Kirchenglocken stammt noch aus der Gründungszeit der Kirche.«
Im hinteren Winkel meines Gehirns klingelt etwas. »Der Runen mächtiges Geheimnis …«, murmele ich.
Øyvind und der Pastor sehen mich fragend an.
»Was?«, fragt Øyvind.
»Die Inschrift auf dem Runenstab! Da stand, des heiligen Kultes Amon-Ra würdige WÄCHTER kennen der Runen klangvolles Geheimnis!«
»Was für ein Runenstab?«, will der Pastor wissen. »Und wer ist Amon-Ra?«
»Natürlich!«, platzt Øyvind heraus.
Wie aufgescheuchte Hühner laufen wir die ausgetretenen Treppenstufen zur Kirchturmspitze hinauf und stolpern außer Atem in den Glockenturm. Der Pfarrer öffnet zwei Fensterluken, damit wir mehr Licht haben.
Der untere Rand der älteren Glocke ist mit einer Runeninschrift versehen. Die Schriftzeichen sind abgestoßen, aber einigermaßen leserlich. Viele alte Kirchenglocken sind mit rückwärtsgeschriebenen Runeninschriften verziert, wahrscheinlich als eine Art Beschwörungsformel. Aber in diesem Fall kommen wir auch mit Rückwärtslesen nicht weiter. Als wir uns mühsam durch die Runenreihe buchstabieren, lächelt der Pastor milde und erklärt uns, die Zeichen seien ohne jeden Sinn.
»Im Laufe der Jahrhunderte haben schon etliche Leute versucht, die Inschrift zu deuten, aber ohne Erfolg. Die Zeichen sind reine Ornamentik.«
Während Øyvind Fotos von der Glocke macht, male ich Rune für Rune in mein Notizbuch.
4
Øyvind sitzt neben mir auf dem Beifahrersitz, als wir mit dem Leihwagen zurück nach Nesodden fahren. In den folgenden Tagen sind wir mit dem Entschlüsseln der Runenzeile beschäftigt. Aber uns gelingt es genauso wenig wie unseren Vorgängern, den Code zu knacken. Die Geheimrunen sind nicht einfach verschlüsselt, sondern darüber hinaus noch in einem eigenen Zeichensystem verfasst: in Astrunen.
Das Geheimnis der Astrunen ist die Einteilung des Runenalphabets in drei sogenannte ætter , Stämme. Das von den Runenmeistern entwickelte Schema sah folgendermaßen aus:
Jede Astrune wird zuerst einem der drei »Stämme« zugeordnet, die, um es noch etwas verwirrender zu machen, in absteigender Reihenfolge nummeriert sind. Und danach werden die Runen des jeweiligen Stammes in waagerechter Reihenfolge einer Ziffer von eins bis sechs zugeordnet.
Nach diesem System entspricht das Runenzeichen A einem Zahlenwert von 24 – die 4. Rune im 2. Stamm. Und B hat den Wert 12 – die 2. Rune im 1. Stamm.
Der Zahlenwert der Rune wurde dann als Astrune wiedergegeben. A – also 24 – wurde mit zwei Ästen (Stammwert) links vom Stab und vier Ästen rechts vom Stab angegeben:
Ein F hat drei linke Äste und einen rechten und ein Y einen linken und fünf rechte Äste.
Mit der Logik geht es mir ähnlich wie mit Frauen, so richtig verstehe ich beide nicht. Auch wenn ich das System hinter den Geheimrunen nachvollziehen kann, durchschaue ich es nicht wirklich. Wir sind wieder einmal an einem Punkt angelangt, an dem uns nur noch Terje Lønn Erichsens weiterhelfen kann.
Er lässt sich nicht lange bitten. Ausgerüstet mit meinen Notizen und den Fotos von der Kirchenglocke, stürzt er sich auf die Schriftzeichen wie einst Champollion auf den Stein von Rosetta.
Zuerst zerlegt er den Text in seine einfachsten Bestandteile, und zwar auf eine Art, wie es Øyvind und mir niemals in den Sinn gekommen wäre. Danach nimmt er eine Analyse der Wortstrukturen vor. Auf diese Weise findet er heraus, dass sich der Text aus zwei Zeichengruppen zusammensetzt, die dreimal wiederholt werden und an die sich fünf einzelne Wörter anschließen, die nur einmal vorkommen.
Der Runenmeister hat gewöhnliche Runen und Astrunen in einem Text kombiniert, den man von hinten nach vorne lesen muss.
»Ich überprüfe mal, ob das Runenrad uns weiterhilft«, sagt Terje, der eine Kopie von dem Runenrad angefertigt hat, das im Museum in Bergen liegt. Das Runenrad fasziniert Wissenschaftler und Forscher gleichermaßen, seit es beim Abriss der Stabkirche in Gol 1882 gefunden wurde. Das Runenrad ist eine primitive Codierungsmaschine, ein Vorläufer des Wheatstone-Playfair-Verfahrens. Es besteht aus einer Holzplatte mit zwei eingelassenen, konzentrischen Scheiben von unterschiedlichem Durchmesser. Auf der einen Scheibe steht das ältere, auf der anderen
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