Der Palast
Mann die Luft ab. Sano presste die Arme des Priesters über dessen Kopf auf den Boden. Im Licht des Tempels, in dem noch immer Chaos herrschte, erkannte Sano das Gesicht seines Gefangenen.
Seine Augen funkelten Sano grimmig an; die Pupillen waren so geweitet, dass sie von keiner Farbe umrandet zu sein schienen. Sie waren so schwarz, als könnte er hinaussehen, aber ich konnte nicht hineinschauen, erinnerte er sich an Yukas Worte.
Das war der Mann, der Yukas Tochter Mariko in die Finsternis der Sekte der Schwarzen Lotosblüte gezogen hatte!
War dieser Fremde auch der Drachenkönig?
»Wer seid Ihr?«, rief Sano dem Priester ins Gesicht. »Sagt mir Euren Namen!«
Der Priester schnaubte wütend und entblößte seine abgebrochenen, scharfen Zähne. »Ich bin Höchste Weisheit, der Herr der kosmischen Kräfte, der Euch und alle Ungläubigen vernichten wird.«
Sano konnte es kaum glauben.
Er hatte den Priester der Schwarzen Lotosblüte und den geheimen Tempel gefunden, die er bei Beginn der Ermittlungen gesucht hatte.
Sanos Männer hatten die Anhänger der Schwarzen Lotosblüte überwältigt. Zwei Mönche begingen Selbstmord, um der Gefangenschaft zu entgehen. Vier Anhänger der Sekte waren auf der Flucht zu Tode getrampelt worden. Sano hatte den größten Teil seiner Ermittler beauftragt, die restlichen Anhänger der Schwarzen Lotosblüte ins Gefängnis von Edo zu bringen und die Behörden in Ginza über die Entdeckung und das Ausheben des geheimen Tempels zu informieren. Jetzt stand er mit zwei Ermittlern in einem Raum des Gasthofes, wohin sie Höchste Weisheit gebracht hatten, um ihn zu verhören.
Der Priester kniete unter einer Laterne, die an der Decke hing. Sein Haar war zerzaust; Schmutz klebte auf seiner verschwitzten Haut und nahm seinem Umhang den Glanz. Die aufrechte Haltung ließ die Überheblichkeit des Mannes erkennen. Seine Gefühle verbarg er hinter einer unnatürlichen Gelassenheit. Die geisterhaften schwarzen Augen des Priesters musterten Sano, der um den Mann herumschritt, während ein Ermittler die Tür versperrte und ein anderer vor dem vergitterten Fenster stand. Draußen flackerten Fackeln; Gestalten schritten über den Hof, als die Beamten der Polizeistation Ginza erschienen, um den geheimen Tempel zu inspizieren, in dem trotz des Verbots der Sekte Versammlungen abgehalten worden waren.
»Habt Ihr die Mutter des Shōgun entführt?«, fragte Sano den Priester.
Sano konnte sich nur mit Mühe beherrschen, denn die herablassende Miene des Priesters schürte seinen Hass auf die Schwarze Lotosblüte nur noch mehr. Gefangene Sektenmitglieder genossen es, die Obrigkeit zur Anwendung körperlicher Gewalt anzustacheln, um ihre eigene spirituelle Überlegenheit zu demonstrieren. Sano wusste, dass er fähig wäre, Höchste Weisheit zu töten, wenn es zu einem Kampf mit dem Priester käme, der direkt oder indirekt an der Versklavung, Folter und Ermordung unzähliger unschuldiger Menschen die Schuld trug. Doch wenn er Höchste Weisheit tötete, würde Sano die Informationen, die er brauchte, um Reiko zu retten, niemals bekommen.
Immer noch lag ein Ausdruck von Verachtung auf der gelassenen Miene von Höchste Weisheit. »Wenn ich Fürstin Keisho-in entführt hätte, würde ich es Euch nicht sagen«, sagte der Priester mit seiner sonderbar tiefen, dröhnenden Stimme. »Und mein Geist ist mächtig. Ihr werdet mir kein Geständnis entreißen.«
Sano bekämpfte seine Ungeduld. Er wusste, dass Höchste Weisheit einer der glühendsten Fanatiker der Schwarzen Lotosblüte war, dessen Glaube jedem Zwang widerstand. »Dann sprechen wir zunächst über Eure Anhänger«, sagte Sano.
»Ich werde die Namen der Anhänger, die noch in Freiheit sind, nicht preisgeben.« Höchste Weisheit regte sich nicht, während Sano ihn umkreiste. »Foltert mich, tötet mich, aber ich werde meine Anhänger nicht verraten und sie in den Tod schicken.«
»Ich bin nicht daran interessiert, Euch zu einem Märtyrer zu machen«, entgegnete Sano. »Und die einzige Anhängerin, für die ich mich interessiere, ist tot. Sie starb, als das Gefolge und die Begleitsoldaten bei der Entführung Fürstin Keisho-ins niedergemetzelt wurden. Die junge Frau hieß Mariko.«
»Ich kenne keine Mariko«, behauptete Höchste Weisheit.
Sano hätte sich von dem gleichgültigen Ton des Priesters und dessen selbstgefälligem Verhalten täuschen lassen, hätte er nicht gewusst, dass der Priester die Unwahrheit sagte. »Mariko ist der Schwarzen
Weitere Kostenlose Bücher