Der Palast
vernahm singende Stimmen und dröhnende Trommeln, hörte Schreie und Stöhnen und roch den vertrauten, penetranten Weihrauchgeruch, der in der Nachtluft lag. Er spähte in die Lagerhalle. In der Mitte des kahlen Holzbodens führte eine Leiter in ein viereckiges Loch, aus dem Rauch, flackerndes Licht und Stimmen drangen.
»Dort hinunter«, sagte Sano. »Kommt!«
Acht seiner Männer stiegen in das Loch, um den Weg auszukundschaften. Dann kletterte auch Sano die Leiter hinunter und ging voraus. Seine Männer folgten ihm in das feuchte, nach Erde riechende Gewölbe, durch das der Gesang, dröhnende Trommelschläge, Schreie und Stöhnen hallten. Ein mit einem Vorhang verhängter Durchgang, durch den ein Lichtschimmer fiel, erschien vor den Männern. Von der anderen Seite des Durchgangs drang nun ohrenbetäubender Lärm zu ihnen. Sano eilte zu dem Durchgang und schob den Vorhang zur Seite. In einer Art Kellerraum, der in die Erde gehauen war, drehten Frauen in roten Kimonos sich wild im Kreis und schwangen Rosenkränze mit schwarzen Perlen. Männer in grauen Mönchsroben und mit rasierten Schädeln schlugen Trommeln, während sie durch den Raum tanzten. Auf dem Boden umschlangen sich unzählige nackte Menschen, die sich in sexueller Ekstase krümmten. Paare und Gruppen unterschiedlichen Alters und in verschiedenen erotischen Stellungen stöhnten und keuchten vor Wollust oder Schmerz. An der fernen Wand brannte ein Lichtermeer von Kerzen zwischen hunderten von Weihrauchbrennern auf einem Altar unter einer Mauer, auf die eine riesige schwarze Blume gemalt war.
Der Keller war ein geheimer Tempel der Schwarzen Lotosblüte. Diese Orgie gehörte zu den Ritualen der Sekte.
»Preist den Ruhm der Schwarzen Lotosblüte!«, sangen die Trommler und Tänzer.
Angewidert von dem obszönen Anblick, betrat Sano mit seinen Ermittlern den Tempel. Die Geächteten waren so sehr in ihren Gesang, das Trommeln und ihre sexuelle Ekstase versunken, dass sie die Eindringlinge gar nicht bemerkten. Zwischen ihnen schritt ihr Priester umher, ein großer Mann, der eine glitzernde Brokatstola über seinem safranfarbenen Gewand trug und eine brennende Fackel in der Hand hielt. Seine Augen waren geschlossen, doch seine nackten Füße bewegten sich geschickt durch die sich ekstatisch windenden, zuckenden Körper. Die kühnen Züge des Priesters offenbarten eine unnatürliche Gelassenheit. Seine Lippen formten stumm Worte; Asche und Funken seiner Fackel rieselten auf die Versammelten nieder.
Sano atmete tief ein. Dann rief er: »Aufhören!«
Die Tanzenden blieben schwitzend und taumelnd stehen. Das Dröhnen der Trommeln verstummte; die Mönche erstarrten. Die Menschenmenge, die sich auf dem Boden ihrer Gier hingab, erwachte aus ihrem Rausch. Die verzückten Schreie und das lustvolle Stöhnen verstummten. Der Priester hielt mitten in der Bewegung inne und riss die Augen auf. Alle starrten bestürzt auf Sano und seine Ermittler, die ihre Schwerter gezogen hatten. Das Keuchen der Menschenmenge klang überlaut und geisterhaft in dem Kellergewölbe.
»Dieser Tempel wird auf der Stelle geschlossen!«, sagte Sano. »Ihr alle seid wegen Ausübung verbotener religiöser Praktiken verhaftet!«
Gerade noch in verzückter Ekstase gefangen, sprangen die Sektenanhänger jäh auf und stürmten auf die Tür zu, ohne auf die gezückten Schwerter der Ermittler zu achten: Sie wussten, dass die Strafe für ihre Verbrechen die Hinrichtung war; deshalb flohen sie trotz der Gefahr, verwundet oder getötet zu werden. Die Männer brüllten; die Frauen schrien. Heiße, feuchte, schweißnasse Leiber bedrängten Sano. Die Ermittler ergriffen die Tänzer und Trommler, die nach ihnen traten und um sich schlugen. Sanos Blick glitt auf der Suche nach dem Priester durch das Kellergewölbe. Inmitten des Tumults erblickte er den Zipfel einer Brokatstola, die soeben durch die Tür verschwand. Sano drängte sich durch die kreischende Menschenmenge zur Tür und sah den Priester eine Leiter hinaufsteigen. Der sōsakan-sama ergriff den Fußknöchel des Mannes und zog kräftig daran. Der Priester stürzte auf Sano hinunter. Beide Männer gingen zu Boden.
»Die Schwarze Lotosblüte wird über die Ungläubigen siegen!«, rief der Priester und schlug mit Fäusten auf Sano ein. »Wer uns angreift, wird sterben!«
Sano versuchte, sein Gesicht zu schützen, als Schläge auf ihn niederprasselten. Er stemmte sich hoch und begrub den Priester unter sich. Das Gewicht seiner Rüstung schnürte dem
Weitere Kostenlose Bücher