Der Palast
verächtlichen Blick und wandte sich dann an den Shōgun. »Meine Aufgabe besteht nicht darin, Herr, das Verbrechen aufzuklären, sondern Euch darauf hinzuweisen, dass dem sōsakan-sama und dem Polizeikommandeur schwerwiegende Fehler in ihrer Beurteilung des Falles unterlaufen sind.«
Sano und Hoshina wechselten einen Blick. Die Frechheit des Priesters machte sie für den Moment sprachlos. Als sie dann lautstark protestierten, hob der Shōgun wütend die Hand und gebot ihnen zu schweigen. »Ja, Ihr habt … äh, schwerwiegende Fehler gemacht. Durch Eure Vorurteile seid Ihr so sehr verblendet, dass Ihr … äh, den Wald vor lauter Bäumen nicht seht!«, stieß der Shōgun hervor. Speichel rann ihm über die Lippen. Er warf Yanagisawa einen flehenden Blick zu. »Kann ich mich wenigstens darauf verlassen, dass Ihr meine geliebte Mutter findet?«
»Natürlich, Herr«, erwiderte Yanagisawa in ruhigem Tonfall, doch Sano spürte die Erregung des Kammerherrn. »Ich habe verschiedene Verdächtige identifiziert. Einer von ihnen hat möglicherweise die Entführung organisiert. Ich erwarte in Kürze Ergebnisse.«
Den Shōgun irritierte diese tröstliche und doch vage Antwort. Sano kannte die Taktik des Kammerherrn: Häufig nutzte er die Angst des Shōgun aus, dumm zu erscheinen, indem er ihn davon abhielt, mehr Informationen zu verlangen, als er ihm freiwillig lieferte. Sano vermutete, dass zu Yanagisawas Verdächtigen auch Fürst Matsudaira und andere Angehörige des Tokugawa-Klans gehörten, die Fürstin Keisho-in als Druckmittel entführt haben könnten, um den Shōgun zu zwingen, Yanagisawa aus der Regierung auszuschließen. Doch der Kammerherr hatte zweifellos keine handfesten Beweise gegen die Verwandten des Shōgun und zögerte daher, sie zu beschuldigen.
Ein Flackern in Ryukos Augen zeigte, dass er diese Taktik durchschaute. Seine vollen Lippen verzogen sich zu der Andeutung eines Lächelns. »Wer sind diese mysteriösen Verdächtigen?«, fragte er Yanagisawa.
Diese hinterhältige Frage barg eine ernste Gefahr. Sanos Herz machte einen Sprung, und Hoshina holte tief Luft. Yanagisawa starrte den Priester wütend an, weil er Ryukos Falle spürte, aber machtlos war, ihr zu entgehen.
»Es würde die Ermittlungen gefährden, die Namen der Verdächtigen zu diesem Zeitpunkt preiszugeben«, sagte Yanagisawa schließlich mit so kalter Stimme, dass er damit ein Feuer hätte löschen können. »Wir dürfen die Entführer nicht hellhörig machen oder in Panik versetzen, sodass sie den Geiseln Schaden zufügen.«
Priester Ryuko kicherte glucksend. Er durchschaute Yanagisawas Ausflüchte. »Diese Gefahr besteht kaum, weil Ihr überhaupt keine Verdächtigen habt! Ihr könnt sie nicht benennen, weil sie gar nicht existieren!«
Sano begriff, dass der Kammerherr weder Namen nennen noch seine Fähigkeiten hervorheben konnte. Denn hätte er seine Feinde in den Reihen des Tokugawa-Klans mit Schmutz beworfen, hätte dies seine Loyalität dem Shōgun gegenüber infrage gestellt. Yanagisawa presste die Lippen zusammen. Die Wut brodelte wie glühende schwarze Lava in seinen Augen. Nicht einmal die seltene Erfahrung, mitzuerleben, wie Kammerherr Yanagisawa überlistet wurde, bereitete Sano Freude, weil sie diesmal auf derselben Seite standen.
Yanagisawa begann zögernd: »Herr …«
»Ruhe!«, herrschte der Shōgun ihn an.
Verwundertes Schweigen ließ die Versammelten erstarren. Yanagisawa war bestürzt, dass der Shōgun in diesem Ton mit ihm sprach. Hoshina riss ungläubig den Mund auf, und Sano runzelte verwundert die Stirn. Erneut huschte ein vages Lächeln über Priester Ryukos Gesicht.
»Ich will kein Wort mehr von Euch hören!« Der Shōgun zeigte auf Yanagisawa. Seine Stimme und seine Hand bebten vor Wut. Dann wies er auf Sano und Hoshina. »Und auch von Euch nicht! Ihr alle habt mich … äh, bitter enttäuscht. Ihr seid es nicht wert, von mir angehört zu werden.«
Sano, Yanagisawa und Hoshina knieten sprachlos auf ihren Plätzen und wagten es nicht, sich zu bewegen. Der Shōgun hatte die Macht, über Tod und Leben eines jeden zu entscheiden, und viele Jahre treuer Dienste oder sogar ein sexuelles Verhältnis konnten den, der seine Wut entfacht hatte, nicht retten. Tokugawa Tsunayoshi hatte schon Männer wegen sehr viel geringerer Vergehen hinrichten lassen. Und in seiner augenblicklich schlechten Stimmung bestand die Gefahr, dass er den Kammerherrn, den Polizeikommandeur und den sōsakan-sama verdammte, weil sie ungefragt
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