Der Pfeil der Rache
Geräusche aus der Stadt verklangen. Auch die Luft war mit einem Mal sauber und salzig. Das Wasser war ruhig, dennoch fühlte ich mich unbehaglich, zum ersten Mal seit vier Jahren wieder auf See. Ich hielt den Bootsrand fest umklammert und blickte zum Ufer zurück. Ich sah die Stadtmauern, den Square Tower und jenseits des Stadtwalls, entlang der Küste die Zelte der Soldaten.
»Danke für die Hilfe«, sagte ich zu Leacon. »Nach dem Verdruss mit den Männern.«
»Gott sei Dank habe ich für heute Nacht frisches Fleisch besorgt. Der Zwieback wird schlecht. Einige Männer liegen schon mit Durchfall darnieder. Und einer hieb sich gestern aus Versehen das Messer ins Fleisch. Zumindest glaube ich an ein Versehen. Die Kompanie besteht nur noch aus achtundachtzig Soldaten.«
Ich schaute wieder zum Ufer, das in immer weitere Ferne rückte. Jetzt konnte ich bis zum South Sea Castle blicken, einem kleinen rosenfarbenen Klotz, der noch winziger wurde, je weiter wir in den Solent hinausruderten. Widerstrebend wandte ich den Kopf beiseite.
Langsam näherten wir uns den Kriegsschiffen. Als wir näher kamen, sahen wir flackernde Lichter auf Deck, man hatte Kerzen und Lampen entzündet. Die Töne einer Flöte und einer Trommel trieben über das Wasser. Leacon starrte besorgt vor sich hin und sagte dann mit stiller Verzweiflung: »Ich muss meine Männer ermutigen, ich muss. Ich muss ihre Stimmung heben, obwohl ich weiß, welcher Albtraum womöglich ihrer harrt.«
»Ihr tut, weiß Gott, was Ihr könnt.«
»Wirklich?«
Wir hatten die Kriegsschiffe beinahe erreicht, ihre unbeschreiblich hohen Masten und gewaltigen Kastelle, die dicken Taue, die ins Wasser führten, um die Anker zu sichern. Das Licht war fast verschwunden, die leuchtenden Farben der Oberdecks in Grautöne verwandelt. Der Fährmann legte sich in die Riemen, um einem Schwall Unrat auszuweichen, der aus einer Latrine im Vordeck schwappte. Stimmen und Musik tönten zu uns herunter, als die gewaltige Silhouette der
Great Harry
vor uns aufragte. Auf dem Hauptdeck war etwas im Gange. Eine kleine Plattform war errichtet worden, die über das Wasser ragte und an der ein Flaschenzug befestigt war. Er wurde dazu benutzt, um aus einem großen Ruderboot einen Gegenstand an Bord zu hieven. Mit Erstaunen nahm ich zur Kenntnis, dass es sich um einen breiten Sessel mit hoher Rückenlehne handelte, mit einem Wachstuch bedeckt, auf den man ein riesiges totes Schwein gefesselt hatte.
»Vorsicht!«, hörte ich jemanden rufen. »Er stößt gegen die Schiffswand!«
»Was in aller Welt geht hier vor?«, fragte ich den Fährmann.
»Irgendein abartiger Seemannsspaß«, antwortete er missbilligend.
Wir ruderten am Flaggschiff vorbei auf die
Mary Rose
zu, deren Rosenemblem sich undeutlich oberhalb des Bugsprietes abzeichnete. Ich reckte den Hals, um nach oben zu schauen.
Die niedrigste, mittlere Sektion des Schiffes war etwa zwanzig Fuß hoch; das langgezogene Heckkastell, aus mindestens zwei Stockwerken bestehend, maß das Doppelte. Das Vorderdeck war noch gewaltiger: Drei Ebenen ragten über dem Bug auf wie riesige Stufen. Ein jäher Wind kam auf, und ich vernahm einen seltsamen Singsang im Takelwerk, der von den Decks bis zur Marsstenge aufstieg. Als wir näher kamen, hörte ich einen Ruf aus dem Mastkorb, hoch auf dem Großmast: »Boot ahoi!«
Der Fährmann steuerte das Boot auf die Mitte des Schiffes zu, den Teil zwischen den mächtigen Deckaufbauten. Ich blickte besorgt auf die große dunkle Silhouette und fragte mich, wie wir an Bord gelangen würden. Meine Augen wanderten zu quadratischen Öffnungen empor, die mit Teer umrandet waren, vermutlich die Geschützpforten. Starke Seile führten durch Ringe in der Mitte hinauf zu bunten Feldern darüber, abwechselnd grün-weiß in den Farben der Tudordynastie und mit einem roten Kreuz auf weißem Grund bemalt, dem Emblem des heiligen Georg.
»Wie kommen wir hinauf?«, fragte ich besorgt.
Leacon deutete auf die bunten Felder. »Diese Holztafeln lassen sich aufklappen. Aus einer lassen sie eine Strickleiter herunter.«
Unser Boot drehte bei und stieß dumpf gegen den Schiffsrumpf. Eine der Tafeln klappte auf, und ein Kopf lugte heraus. Eine Stimme rief die Losung herunter, die ich im Lager gehört hatte: »Gott schütze König Heinrich!«
»Lang möge er über uns herrschen!«, rief Leacon zurück. »Hauptmann Leacon von den Middlesex-Bogenschützen! Amtsgeschäfte für den zweiten Zahlmeister West!«
Der Kopf verschwand, und kurz
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