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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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zwischen zwei Kindern, einem ungefähr zehnjährigen kleinen Jungen und einem lächelnden Baby. Einem komischen Baby, das total schlapp in einem Laufgestell hing. Im Hintergrund auf dem Rasen saß ein Mann, etwas unscharf, der starr ins Objektiv schaute, völlig ausdruckslos. Er war auch auf anderen Fotos. Aber auf nicht sehr vielen.
    Porträts von Roswell gab es dagegen eine Menge, in jedem Alter. Und auf der Rückseite mit Bleistift gekritzelte Sätze oder Nachrichten, immer mit der gleichen Handschrift.
    Heute ist mein Baby drei Jahre alt geworden, es hat die schöne rote Jacke an, die seine Mama ihm gestrickt hat.
    Gérard und Bertrand auf dem Karussell. Mein Baby hat die ganze Zeit gelacht, am liebsten steigt es mit Bertrand in das kleine Flugzeug!
    Gérard und Bertrand am Meer, die Sonne hat den ganzen Tag geschienen.
    Auf dem Foto sah man einen mageren, missmutigen Jungen mit einem Entenschwimmreifen um den Bauch. Im Schatten des Sonnenschirms lag die hässliche kleine Kröte auf einem Handtuch, Arme und Beine ausgebreitet, den Mund zu diesem ungeheuren Lächeln aufgerissen, das andere Leute abstoßend finden mussten.
    Du bist das schönste Baby der Welt. Der Stolz Deiner Mama.
    Auf den Fotos sah ich Bertrand und Gérard immer größer und ihre Mutter immer älter werden. Der unscharfe Mann war nicht mehr da. Bertrand hatte damals schon diese abwesenden Augen, diesen Sackgassenblick.
    Ich sah, wo sie gelebt hatten. Gérard und Bertrand, die beiden Brüder. Ein kleines Reihenhaus mit weißer Fassade. Ein Stückchen Garten, eine Schaukel.
    Gérard und seine Mama auf der Vortreppe, beide zusammen in einem Sessel. Gérard und seine Mama im Garten. Gérard und ein Geburtstagskuchen voller Kerzen. Bertrand erwachsen und Gérard als Jugendlicher, der sich auf seinen Arm stützt, vor der Haustür. Gérard und seine Mama in einer ordentlich aufgeräumten Küche. Er stehend, etwas schief auf eine Stuhllehne gestützt, sie am Tisch sitzend, den Kopf leicht geneigt. Bertrand auf einem Rennrad, mit stolzem Blick.
    Ein Fest mit einem Dutzend Leuten, Bertrand und Marlène. Gérard im Vordergrund, der auf seine Finger schäumt, von seiner Mutter am Arm gestützt.
    Sie: immer grauer, weißer, schrumpfend.
    Er: immer verkrümmter, lächelnd.
    Sie hatte ihm Dutzende von Briefen geschrieben. Tat sie das, um sich die Zeit zu vertreiben, um ihre Ängste zu vergessen? Las sie ihm die Briefe vor? Konnte er lesen?
    Das hatte ich mich noch nie gefragt.
    Konnte man sich zwischen seinen fahrigen Händen ein Buch vorstellen? Konnte man sich Roswell vorstellen, wie er eine Seite umblätterte, ohne sie zu zerreißen, wie er mit seinem unsteten Blick einer Zeile bis zum Ende folgte?
    Die Briefe waren jedenfalls da. Ich hatte nicht vor, sie zu lesen, mein Blick hat nur zwei oder drei Sätze gestreift, ist an ein paar Worten hängengeblieben.
    Mein Liebling, ich möchte immer bei Dir bleiben können. Du bist mein Sonnenschein, der Schatz meines Lebens, das Glück meiner Tage.
    Wer wird Dich danach lieben, wie Du es verdienst?
    »Danach.«
    Wie schwer ihr dieses Wort gefallen sein muss.
    Wie oft muss sie daran gedacht haben, was ihren Sohn erwarten würde, wenn sie einmal nicht mehr wäre. Deshalb hatte sie Bertrand gebeten, sich um seinen Bruder zu kümmern. Um diesen Bruder, der ihm schon als Kind eine solche Last gewesen sein muss.
    Aber bis dahin verhätschelte sie ihn, widmete ihm ihre gesamte Zeit, schrieb ihm Briefe, brachte ihm Lieder bei, Gedichte, die sie manchmal für ihn abschrieb und mit Kommentaren versah, immer mit Bleistift und in der gleichen sorgfältigen, schulmäßigen Schrift.
    Mein Liebling, hier ist der Anfang des Gedichts von Eugène Guillevic, das Du so gernhast:
    Es gibt Monster, die sind sehr lieb
    Sie setzen sich mit zärtlich geschlossenen Augen neben dich
    Und legen ihre haarige Pranke
    Auf dein Handgelenk
    Ich habe alles aufgeräumt, die Schachtel wieder zugemacht und sie zurück auf Roswells Schoß gelegt.
    Er schlief mit offenem Mund und tropfte friedlich auf die Armlehne.
    Ich habe die Tür leise hinter mir geschlossen.

 
    R oswell hat das ganze Abendessen über eine Comedy-Show abgezogen. Er hat mit vollem Mund gelacht, sich prustend und spuckend verschluckt, dann landete ein Ellbogen in seinem Teller und am Ende ein Löffel voll Nudeln auf dem Boden. Er war in Höchstform.
    Marlène ließ ihn nicht aus den Augen, ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, die Lippen wurden schmaler, und sie knabberte an der

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