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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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Rindvieh!«
    Ich habe mein Kinn in die Hand gestützt und weiter gewartet.
    Sie hat tief Luft geholt. »Er hat bei einem Spiel mitgemacht, im Internet: Man muss Fragen beantworten, und wenn du es richtig machst, nimmst du an einer Verlosung teil … Es ging ums Radfahren. Da kennt er sich aus.«
    »Okay. Ein Spiel. Und weiter?«
    »Er hat den zweiten Preis gewonnen!«
    »Das ist doch eine gute Nachricht, oder?«
    »Von wegen!« Sie sah aus, als würde sie gleich explodieren. »Er hatte die Wahl zwischen einer Küche, voll ausgestattet  – Haushaltsgeräte extra gegen Aufpreis , und einer Woche mit Halbpension, und er … und er … er hat mich nicht mal gefragt, er hat … er hat die Woche für zwei genommen, am Meeeeeeeer!«
    Und sie ist in Tränen ausgebrochen.
    Sie weinte wie ein kleines Mädchen, presste beide Fäuste auf die Augen und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab, wobei sie ihre Wimperntusche übers ganze Gesicht verschmierte.
    Zwischen zwei Schluchzern brachte sie hervor: »Da … da kann er … allein hinfahren … ans … Meeeeer! Ganz allein … hörst du-hu-hu?!«
    Ich sah ihre Verzweiflung. Es war der Weltuntergang, nur schlimmer.
    Ich habe »Wird schon, wird schon« gemurmelt, ohne viel Überzeugung,
    Als sie wieder aufgeschaut hat, sah sie aus wie ein Panda.
    Ich habe gesagt: »Deine Küche ist doch sehr gut, so wie sie ist. Und eine Woche Urlaub wird dir nicht schaden, weißt du? Neulich hast du doch noch gesagt, dass du nie wegfährst …«
    Marlène hat sich mit dem Geschirrtuch die restlichen Tränen getrocknet. Sie hat geschnieft und den Kopf geschüttelt, niedergeschlagen und enttäuscht. Sie träumte von Berggipfeln, und da kam man ihr mit Stränden, wo sie doch nicht mal einen Badeanzug hatte. Sie war wirklich ein Pechvogel. Das große Los war einfach nie für sie bestimmt.
    »Wo ist das denn mit deiner Halbpension?«
    Sie hat wieder geschnieft. »In Brides-les-Bains. Ich weiß nicht mal, an was für einem Meer das ist!«
    Ich bin aufgestanden und habe Marlène gesagt, dass ihr Badeort in den Alpen ist.
    In den Alpen.
    Und dann bin ich hochgegangen, um Roswell hallo zu sagen.

 
    E r saß in seinem Sessel am Fenster.
    Er schlief wie ein Bär im Winter, mit seiner Schatzkiste auf dem Schoß. Das ist eine Art Schuhschachtel mit großen Sonnenblumen auf dem Deckel, in der er Dinge aufbewahrt. Wenn ich hereinkomme, während er gerade dabei ist, seine Sachen zu sortieren, macht er die Schachtel normalerweise sofort wieder zu – was allerdings eine Weile braucht, so schwer, wie ihm jede Bewegung fällt – und stellt sie auf die Kommode neben dem Sessel. Topsecret.
    Ich habe ihn einen Moment lang angeschaut.
    Sein Kopf war seitlich auf die Lehne gesackt, er schnarchte lauter als ein Ultraleichtflugzeug, die Schachtel lag schräg auf seinen Beinen, kurz davor, herunterzufallen.
    Sogar wenn Roswell schläft, schüttelt es ihn. Er hat Zuckungen, plötzliche Krämpfe, seine Schaltkreise kommen einfach nicht zur Ruhe. Aber sein Gesicht ist friedlicher, und dann sieht er Bertrand gleich etwas ähnlicher.
    Ich bin zum Fenster gegangen und habe die unvergleichliche Aussicht gewürdigt, die er dreihundertfünfundsechzig Tage mal vierundzwanzig Stunden im Jahr genießen darf … Das Dach vom Schuppen, die Wäscheleine, auf der seine Unterhosen und die seines Bruders trocknen, neben den Büstenhaltern von Marlène. Dann das Gartentor und ein Stück Weg. Links die Lagerhallen, etwas weiter hinten die Fabrik. Rechts die Pappeln, die am Kanal stehen.
    An jedem Tag seines Lebens.
    Ich fragte mich, ob er sich langweilt, ob ihm die Zeit lang wird.
    Oder vielleicht beruhigt es ihn auch, immer dasselbe zu sehen?
    Ich wollte wieder hinausgehen, als sich eins seiner Beine plötzlich entspannte. Die Pappschachtel segelte auf den Boden, der Deckel auf die eine Seite, der Rest auf die andere und eine ganze Ladung Krimskrams dazwischen. Roswell ist nicht aufgewacht.
    Ich habe angefangen, die Fotos und Briefe aufzusammeln, die über den Teppichboden verstreut lagen.
    Auf den meisten Bildern sah man immer wieder die gleiche Frau, eher groß, mit einem mageren Gesicht und dichtem, dunklem Haar. Ernste Augen.
    Auf einem Foto hatte sie einen Säugling im Arm, eingewickelt in eine bunte Patchworkdecke, die sie sicher selbst gehäkelt hatte. Sie war noch recht jung, zwischen fünfunddreißig und vierzig. Schwer zu sagen bei diesem traurigem Blick. Auf einem anderen Foto sah man sie in einem Park,

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