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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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Innenseite ihrer Wangen. Ein nervöser Tick.
    Bertrand tunkte die Fleischsauce mit Brot auf und sah dabei fern, wie immer.
    Und ich schaute Marlène an, die wiederum Roswell anstarrte, und wusste, der Junge spielte mit seinem Leben, die Vergeltung würde nicht lange auf sich warten lassen und über ihn hereinbrechen wie die Heuschrecken über Ägypten.
    Ein paar Minuten später dann der krönende Abschluss: Als Roswell aufstand, um zur Toilette zu gehen, blieb er an der Tischdecke hängen, sodass sein Teller und zwei Gläser in hohem Bogen durch die Luft flogen.
    Damit war bei Marlène die Explosionsgrenze überschritten, sie ging hoch wie eine Rakete. »Jetzt schau dir diese Sauerei an! Siehst du eigentlich, was ich hier durchmache?« Sie brüllte zu Bertrand rüber. »Siehst du, was ich für ein Leben habe, mit diesem Schwachkopf, diesem Klotz am Bein?«
    Das war die Ouvertüre.
    Bertrand schälte in aller Seelenruhe seine Birne weiter: »Hör zu, ich sag dir was: Es bringt nichts, wenn du schreist.«
    Je ruhiger er ist, desto mehr regt sie sich auf. »Von wegen, es bringt nichts! Es beruhigt meine Nerven! Und überhaupt: Ich schreie, wann ich will!«
    »Na, dann schrei eben, wenn es dir guttut.«
    »So redest du nicht mit mir! Und den Dreck von deinem Bruder kannst du gefälligst selbst wegmachen, ich bin hier nämlich nicht die Putzfrau!«
    Drohende Stille. Pause. Sturmwarnung.
    Ich habe meinen Roswell unter den Arm genommen, ihm ohne weiteren Kommentar seine Jacke übergezogen und verkündet, dass wir ein bisschen an die Luft gehen.
    »Ja, genau, bring ihn mir außer Sichtweite, bevor ich ihm eine knalle!«
    »Marlène, ich warne dich: Wenn ich sehe, dass du meinen Bruder anrührst …«
    »Das wirst du schon nicht sehen, bist ja eh nie da! Und überhaupt, was würdest du dann machen, hä? Mich schlagen vielleicht?! Hast doch sowieso nichts in der Hose! Ach, du kannst mich mal!«
    »Und du mich erst – wenn du wüsstest …«
    Wir sind hinausgegangen, es war schönes Wetter. Ich mag es, wenn die Tage länger werden. In der Ferne hörte man die Frösche quaken. Und in der Nähe Marlène und Bertrand.
    Ich habe Roswell seine Decke um die Schultern gelegt. Er hat mir mit seinem unglaublichen Lächeln gedankt und gesagt: »Dubisssnett.« Ich habe ihm geantwortet, ich wäre sehr geehrt. Er hat sich schlappgelacht.
    »Was meinst du: Ob jetzt noch Enten am Kanal sind?«
    Roswell hat den Kopf geschüttelt. »Weisssnich …!«
    »Wir könnten mal nachschauen, oder?«
    »Ssssuper!«
    Ich habe ihm seine Kutsche aus dem Schuppen geholt.

Wie ein Küken im Ei
    S eit der Zackenbarsch sein Gespann hat, spüre ich, dass er eine Idee ausbrütet. Er ist irgendwie noch schweigsamer geworden. Wegen Nachdenken geschlossen.
    Am Montag ist es schließlich aus ihm rausgeplatzt. Als ich bei ihm in der Garage aufgekreuzt bin, hat er gesagt: »Wir stecken die Schlafsäcke in die Seitentaschen, das Essen und das Bier in den Beiwagen, und dann hauen wir ab.«
    Er sagte das wie ein Knastbruder, der seinen Ausbruchsplan vorstellt. Mit einer latenten Spannung in der Stimme und einer wilden Entschlossenheit.
    Ich habe gefragt: »Und wo nimmst du die Schlafsäcke her?«
    »Ich habe die gesamte Ausrüstung. Willst du mal sehen?«
    Er ist nach hinten gegangen, hat den Rasenmäher und den Grill beiseitegeschoben und eine Metallkiste unter dem Regal vorgezogen. Daraus hat er nach und nach eine echte Profi-Ausrüstung hervorgezaubert: Schlafsäcke, Überlebensdecken, Biwaksäcke, selbstaufblasbare Isomatten, Kocher, Gaskartuschen, Stirnlampen, Regenumhänge … Die Höhle des Ali Baba für Globetrotter.
    Alles nagelneu. Und alles doppelt.
    »Gehört das deinen Eltern?!«
    »Nein, mir.«
    Ich habe mich gefragt, mit wem er wohl vorhatte, im ewigen Schnee sein Lager aufzuschlagen, als er dieses ganze Material gekauft hat. Aber ich habe mich nicht getraut, ihn zu fragen.
    »Und wohin hauen wir ab? Hast du eine Idee?«
    »Scheißegal, wohin! Was zählt, ist abzuhauen.«
    »Du hältst dich jetzt wohl für den Kollegen von Stef?«
    Der Zackenbarsch hat gelacht.
    Stef ist Judolehrer in einem Sportstudio, das auch Tai-Chi, Power Plate, Cardiofitness und Muskeln-Aufpumpen anbietet, in der Innenstadt.
    Im Raum daneben sind die Bodybuilding-Kurse.
    Der Lehrer ist eine wandelnde Reklame für Selbstbräuner und Zahnweißer. Er ist groß, sieht gut aus und ernährt sich von Proteinen. Ein lebender Ken mit noch mehr Muskeln.
    Was aber Stef zufolge seinen

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