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Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordula Simon
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Schienen springenden Straßenbahnen zu fürchten, suchte er die Richtung. Das Einwohnermeldeamt lag mitten im Stadtzentrum. Sein linkes Auge juckte, aber die Entzündung war weitgehend verschwunden. Dieses linke Auge war es auch, das kurz in der Menge von Menschen, die sich in verschiedensten Richtungen aneinander vorbeibewegten, den Hund wahrnahm, doch es musste ein Irrtum sein, dachte Anatol, es konnte nicht Čelobaka sein, so treu ihm das Tier auch bislang stets zu Hilfe geeilt war, glaubte er, konnte es ihm kaum von Odessa nach Kiev gefolgt sein. Eine unmögliche Strecke. Er rieb das linke Auge, das das wohlwollende Gespenst gesehen hatte. Nun gut, dann eben zu Fuß, er hatte ohnehin ein geringes Bedürfnis, sich mit den Menschenmassen in die Metro schieben zu lassen. So tief unter der Erde, als führe man an hell beleuchteten Werbeplakaten der Theater und Ausstellungen vorbei in die Hölle. Er würde den Bahnen der Električka folgen, ein Stück weit würde sie ihn führen. Geradeaus also. Er hatte gehofft, sich an den Haltestellen orientieren zu können, doch sie waren unmarkiert, falls es sie gab. Die unbeweglichen, unerschütterlichen betonierten Mülleimer in Kiev, ganz anders als die auf leichten Füßen stehenden kupferfarbenen oder grauen, quadratischen Trichtern gleichenden in Odessa. Ein gesprayter Fisch war zu sehen, auf einem der betonenen rundgegossenen Aquarien, ein Goldfisch, etwas vom Gold der Stadt, das außer den grellen Kuppeln noch übrig war.
    Müde und träge und ohne Empfindung dafür, wie lange er bereits gegangen war, bemerkte er eine Frau, die er nach dem Weg fragen konnte, sie hatte ihn nicht rufen gehört, da war er näher gekommen, hatte nochmals leise gefragt, sie wirkte bereits verunsichert, er nahm an, dass er sie öfter als zweimal ansprechen musste, und so fragte er nochmals. Er hatte die Frage immer noch nicht zu Ende gesprochen, und er wusste nicht, ob er sie nicht verstanden hatte, weil sie Ukrainisch sprach und er doch nur Russisch konnte, oder weil er tot war und bislang mit kaum jemandem gesprochen hatte, außer mit Ziganys und dem Hund. Und erschrak darüber, wie tief seine Stimme im nüchternen Tageslicht doch war. Nur mit dem Hund hatte er geredet und nur nachts. Vielleicht war sie vom Sterben so tief geworden und so zerkratzt. Die Frau schüttelte den Kopf, hektisch, und schrie plötzlich auf und ließ Anatol zurück, rannte, und er beobachtete sie noch einen Moment, wie sie links und rechts der Kreuzung nach einem eigenen Weg suchte, Anatol hustete und schlurfte weiter. Ob sie ihn vor zwei Jahren, als er in jenem kleinen Café Gitarre gespielt hatte, wohl auch so wohlwollend von der Bühne applaudiert hätten, hätte seine Stimme so geklungen? Er schluckte, denn es war keine schöne Erinnerung: Das Publikum hatte applaudiert und nicht aufgehört, das Schlagen hatte einfach nicht aufgehört, weniger weil sie mehr hätten hören wollen, sondern vielmehr weil sie wollten, dass er die Bühne verließ. Er erinnerte sich im Detail und hätte sich wohl darüber gewundert, warum es gerade eine solche Erinnerung war, die ihm nicht verloren gegangen war, und so viele andere, die besser gewesen wären, ihm entkommen waren. Die Erinnerung an einen Menschen sollte übrig bleiben, wenn er starb, eine dreiste Behauptung, denn seine Erinnerungen schwanden mehr und mehr. Er hatte Durst, doch so dreckig und verchlort das Wasser aus den Leitungen in Odessa kam, so radioaktiv floss es in Kiev. Er würde Wasser kaufen oder erbetteln müssen. Ein kleines Geschäft, über dessen Tür »Produkti« stand, befand sich auf der Chaussee, auf der er ohne vernünftige Richtung, mehrmals die Straßenseite wechselnd, dahingewandert war. Ein Klingeln ertönte, als er die Tür öffnete, doch auf seine Frage, ob sie nicht einen Schluck Wasser für ihn hätten, streckte die Verkäuferin mit dem Kopftuch hinter der gläsernen Theke, in der Kefir und Käse und Schokolade präsentiert wurden, ihren Arm aus, zeigte mit dem Finger auf ihn, fluchte etwas unverständlich »ukrainska mova«, gepaart mit einem spitzen Schrei, und der Achranik packte Anatol am Arm und bugsierte ihn umgehend auf das Trottoir zurück. Ja, Vater Staat hatte sich verändert. Nationalismus könnte ihn verdursten lassen. Er hatte ja gar kein Meer gewollt, nur einen Schluck, er konnte ja ohnehin nicht schwimmen. Nur gerade so, dass er nicht unterging, auf Hundeart. Ob er schon vorher an diesem Durst gestorben war? Immer noch war jeder

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