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Der Präsident

Der Präsident

Titel: Der Präsident Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baldacci
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aufgenommen hätte, wenn er dreißig Jahre jünger gewesen wäre. Aber das war er nicht. Noch immer hatte er stärkere Nerven als die meisten, doch wie Flussgestein waren sie über die Jahre hinweg erodiert; sie waren nicht mehr, was sie einst gewesen waren. In seinem Alter überließ man solche Schlachten anderen, die sie entweder gewannen oder verloren. Seine Zeit war nun endlich gekommen. Luther Whitney war zu alt für die Herausforderung. Sogar er musste diese Tatsache einsehen und sich damit abfinden.
    Abermals betrachtete er sich im Spiegel. Ein Schluchzen staute sich in der Kehle, bis es schließlich herausdrang und den kleinen Raum erfüllte.
    Es gab keine Entschuldigung, die rechtfertigen konnte, was er nicht getan hatte. Er hatte die verspiegelte Tür nicht geöffnet. Er hatte den Mann nicht von Christine Sullivan heruntergezerrt. Er hätte den Tod der Frau verhindern können; das war die einfache Wahrheit. Hätte er gehandelt, sie wäre noch am Leben. Seine Freiheit, wahrscheinlich sogar sein Leben, hatte er gegen ein anderes eingehandelt. Gegen das Leben eines Menschen, der Hilfe gebraucht hätte, der gegen den Tod ankämpfte, während Luther nur zusah. Ein menschliches Wesen, das knapp ein Drittel von Luthers Zeit auf Erden verbracht hatte. Er war zu feige gewesen, und diese Erkenntnis umklammerte ihn wie eine wilde Anakonda, die ihn zu zerquetschen drohte.
    Tief beugte er sich zum Waschbecken hinunter, als die Beine unter ihm nachgaben. Er war geradezu dankbar dafür. Er konnte sein Gesicht im Spiegel nicht länger ansehen. Als die Maschine durch ein Luftloch sackte, wurde ihm speiübel.
    Einige Minuten verstrichen; er tränkte ein Papierhandtuch mit kaltem Wasser und wischte sich damit über Gesicht und Nacken. Schließlich gelang es ihm, an seinen Platz zurückzutaumeln. Während das Flugzeug weiterdröhnte, schien sein Schuldgefühl mit jeder Meile zu wachsen.
    Das Telefon klingelte. Kate sah auf den Wecker. Elf Uhr. Normalerweise ließ sie Anrufe um diese Zeit aufzeichnen. Aber irgendetwas veranlasste sie, die Hand auszustrecken und den Hörer abzunehmen, bevor die Maschine sich einschalten konnte.
    »Hallo.«
    »Warum bist du nicht mehr bei der Arbeit?«
    »Jack?«
    »Wie geht’s deinem Knöchel?«
    »Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«
    »Ich muss mich doch nach meiner Patientin erkundigen. Ärzte schlafen nie.«
    »Der Patientin geht es gut. Danke für die Fürsorge.« Sie musste unwillkürlich lächeln.
    »Karamelleis. Diese Medizin hat mich noch nie im Stich gelassen.«
    »Aha, es gab also auch andere Patientinnen?«
    »Mein Anwalt hat mir geraten, auf diese Frage nicht zu antworten.«
    »Ein guter Anwalt.«
    Jack konnte sich genau vorstellen, wie sie dasaß und mit einem Finger an den Haarspitzen spielte, wie damals, wenn sie gemeinsam gelernt hatten; er hatte Sicherheitsvorschriften gepaukt, sie Französisch.
    »Dein Haar wellt sich auch ohne Hilfe an den Enden.«
    Sie zog den Finger zurück, lächelte, dann runzelte sie die Stirn. Diese Bemerkung rief eine Menge Erinnerungen wach. Nicht alle davon waren angenehm.
    »Es ist spät, Jack. Ich habe morgen einen Gerichtstermin.«
    Jack stand auf und schritt mit dem schnurlosen Hörer auf und ab. Blitzschnell überlegte er, wie er sie noch ein paar Sekunden am Telefon halten konnte. Er fühlte sich schuldig, als schnüffelte er herum. Unwillkürlich blickte er über die Schulter. Aber da war niemand, zumindest niemand, den er sehen konnte.
    »Tut mir leid, dass ich so spät noch angerufen habe.«
    »Schon in Ordnung.«
    »Und überhaupt, dass ich dir den Knöchel verrenkt habe.«
    »Dafür hast du dich doch schon entschuldigt.«
    »Ja. Wie geht’s dir so? Ich meine, abgesehen vom Knöchel?«
    »Jack, ich brauche wirklich ein bisschen Schlaf.«
    Er hatte gehofft, dass sie das sagen würde.
    »Gut, dann erzähl es mir morgen beim Mittagessen.«
    »Ich hab’ dir doch gesagt, dass ich einen Gerichtstermin habe.«
    »Nach dem Gerichtstermin.«
    »Jack, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Eigentlich bin ich ziemlich sicher, dass es eine lausige Idee ist.«
    Er fragte sich, was sie damit wohl meinte. Es war schon immer eine seiner schlechten Angewohnheiten gewesen, zu viel aus ihren Bemerkungen herauszulesen.
    »Ach, komm, Kate. Es ist nur ein Mittagessen. Ich bitte dich doch nicht, mich zu heiraten.« Er lachte, wusste aber bereits, dass er voll ins Fettnäpfchen getreten war.
    Kate spielte nicht mehr mit ihrem Haar. Auch sie stand auf.

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