Der Prediger von Fjällbacka
müssen!«
Es war, als würde man ins Blaue hinein reden. Es war sinnlos. Anna wußte nach all den Jahren mit Lucas, daß er meinte, was er sagte. Es war nie seine Schuld. An allem, was passierte, hatten immer die anderen schuld. Jedesmal wenn er sie geschlagen hatte, war es ihm gelungen, daß sie sich schuldig fühlte, weil sie nicht verständnisvoll genug, nicht liebevoll genug, nicht untertänig genug gewesen war.
Als sie dank bis dahin verborgener Kraftressourcen die Scheidung durchgesetzt hatte, fühlte sie sich zum erstenmal seit vielen Jahren stark und unbesiegbar. Endlich würde sie ihr Leben zurückgewinnen können. Sie und die Kinder würden von vorn beginnen. Aber die Sache war ein wenig zu leicht gegangen. Lucas war wirklich schockiert gewesen, daß er der Tochter bei einem seiner Wutanfälle den Arm gebrochen hatte, und verhielt sich ungewöhnlich nachgiebig. Ein hektisches Junggesellenleben nach der Scheidung hatte ebenfalls dazu beigetragen, daß er Anna und die Kinder in Ruhe gelassen hatte, weil er mit einer Eroberung nach der anderen beschäftigt war. Aber gerade als Anna geglaubt hatte, daß es ihr gelungen war, sich zu retten, hatte Lucas sein neues Leben satt bekommen und den Blick wieder zurück auf die Familie gerichtet. Als er mit Blumen, Geschenken und der Bitte um Verzeihung keinen Erfolg gehabt hatte, waren die Samthandschuhe wieder abgelegt worden. Er verlangte, das alleinige Sorgerecht für die Kinder zugesprochen zu bekommen, und begründete das mit einer Menge grundloser Beschuldigungen, die Annas Unfähigkeit als Mutter belegen sollten. Nichts davon stimmte, aber wenn Lucas wollte, konnte er so überzeugend und charmant auftreten, daß sie davor zitterte, daß ihm der Versuch womöglich gelang. Sie wußte auch, daß es ihm eigentlich nicht um die Kinder ging. Es würde sich mit seinem Berufsleben nicht vereinbaren lassen, zwei kleine Kinder betreuen zu müssen, doch er hatte die Hoffnung, Anna so sehr zu erschrecken, daß sie zu ihm zurückkam. In schwächeren Stunden war sie genau dazu auch bereit. Zugleich begriff sie, daß es unmöglich war. Dann würde sie untergehen.
Sie nahm sich zusammen. »Lucas, diese Diskussion hier führt zu nichts. Nach der Scheidung ist mein Leben weitergegangen, und das sollte das deine auch tun. Es stimmt, daß ich einen neuen Mann kennengelernt habe, und das ist eine Sache, die du einfach akzeptieren mußt. Den Kindern geht es gut, und mir geht es gut. Können wir nicht versuchen, damit wie erwachsene Menschen umzugehen?«
Ihr Ton war bittend, aber vom anderen Ende der Leitung begegnete ihr nur kompaktes Schweigen. Sie begriff, daß sie die Grenze überschritten hatte. Als sie das Tuten hörte, das anzeigte, daß Lucas einfach aufgelegt hatte, war ihr klar, daß sie das hier auf irgendeine Weise bezahlen mußte. Und zwar teuer.
4
Sommer 1979
Das höllische Bohren in ihrem Kopf peinigte sie so sehr, daß sie die Finger ins Gesicht grub. Wenn ihre Nägel lange Kratzer in die Haut rissen, konnte sie das unerträgliche Ziehen einen Moment fast vergessen.
Um sie herum war noch immer alles schwarz, aber etwas hatte sie aus ihrer tiefen, traumlosen Betäubung gerissen. Ein kleiner Lichtspalt zeigte sich über ihrem Kopf, und während sie blinzelnd nach oben schaute, wurde er langsam breiter. Sie hörte, daß jemand durch den zur Öffnung erweiterten Spalt kam und eine Treppe herunterstieg. Jemand, der im Dunkeln immer näher kam. Die Verwirrung machte es ihr schwer herauszufinden, ob sie Angst oder Erleichterung empfinden sollte. Beide Gefühle waren vorhanden, vermischten sich miteinander, mal gewann das eine, dann wieder das andere die Oberhand.
Die letzten Schritte bis zu ihr, die sie zusammengekrümmt auf dem Boden lag, waren fast lautlos. Ohne daß ein Wort geäußert worden wäre, fühlte sie, wie eine Hand über ihren Kopf strich. Vielleicht hätte sie diese Geste beruhigen sollen, doch die Schlichtheit der Bewegung führte dazu, daß sich ihr Herz vor Schreck zusammenkrampfte.
Die Hand setzte ihren Weg über ihren Körper fort, und sie zitterte in der Dunkelheit. Eine Sekunde lang meldete sich der Gedanke, dem gesichtslosen Fremden Widerstand zu leisten. Der Gedanke verschwand genauso schnell, wie er gekommen war. Die Dunkelheit war zu überwältigend, und die Kraft in der Hand, die sie streichelte, drang ihr durch Haut, Nerven und Seele. Unterwerfung war ihre einzige Möglichkeit, das wußte sie, eine entsetzliche Erkenntnis.
Als
Weitere Kostenlose Bücher