Der Prediger von Fjällbacka
um sich zu beruhigen, und sagte dann: »Alle werden jetzt verstehen, daß Papa unschuldig am Verschwinden dieser Mädchen war. Verstehst du, die Leute werden begreifen, daß er es nicht gewesen ist!«
»Wovon faselst du?« Er schüttelte Johan, aber spürte, wie sein eigenes Herz einen Schlag aussetzte.
»Mutter war unten im Ort und hat gehört, daß man ein Mädchen ermordet aufgefunden hat, und zusammen mit ihr fanden sie die verschwundenen Mädels. Begreifst du? Das Mädchen wurde jetzt ermordet. Keiner kann wohl behaupten, daß das Vater gewesen ist!«
Johan lachte in einem Anflug von Hysterie. Robert konnte noch immer nicht fassen, was der Bruder da sagte. Seit dem Moment, als er seinen Vater gefunden hatte, der mit einer Schlinge um den Hals auf dem Boden der Scheune lag, hatte er davon geträumt, diese Worte zu hören, die Johan jetzt hervorstieß.
»Du machst dich wohl nicht über mich lustig? Denn dann kannst du was erleben.«
Er ballte die Faust, aber Johan lachte immer weiter dieses hysterische Lachen, und Tränen, Freudentränen, wie Robert jetzt verstand, liefen ihm über die Wangen. Johan drehte sich zu ihm um und umarmte Robert so fest, daß der kaum Luft bekam, und als ihm klar wurde, daß der Bruder die Wahrheit gesagt hatte, umarmte er ihn ebenfalls mit aller Kraft.
Endlich würde ihr Vater rehabilitiert werden. Endlich würden Mutter und sie mit erhobenem Kopf durch den Ort gehen können, ohne daß hinter ihrem Rücken geflüstert wurde und Finger dezent in ihre Richtung wiesen, wenn die Leute glaubten, sie merkten es nicht. Jetzt würden sie es bereuen, diese verdammten Klatschmäuler. Vierundzwanzig Jahre lang waren sie über ihre Familie hergezogen, und jetzt würden sie vor Scham in die Erde versinken.
»Wo ist Mutter?«
Robert entzog sich Johans Armen und schaute den Bruder fragend an, der unkontrolliert zu kichern begann. Er stieß etwas Unverständliches zwischen den Kicherattacken hervor.
»Was sagst du? Beruhige dich und rede ordentlich. Wo ist Mutter, habe ich gefragt?«
»Sie ist bei Onkel Gabriel.«
Roberts Gesicht verfinsterte sich. »Was, zum Teufel, macht sie bei dem Scheißkerl?«
»Ihm die Meinung sagen, glaube ich. Ich habe Mutter noch nie so wütend gesehen wie vorhin, als sie aus dem Ort zurückkam und erzählte, was sie erfahren hat. Sie wollte zum Hof hoch und Gabriel verklickern, was er für einer sei, sagte sie. Also hat er wohl was zu hören gekriegt. Nee, du hättest sie sehen sollen. Die Haare standen ihr zu Berge, und es fehlte nicht viel, dann wäre ihr Rauch aus den Ohren gestiegen, kannst du mir glauben.«
Das Bild ihrer Mutter mit abstehenden Haaren und Rauchwölkchen, die aus den Ohren pufften, brachte jetzt auch Robert zum Kichern. Solange er sich erinnern konnte, war sie nichts anderes als ein dahinschlappender, brummelnder Schatten gewesen, also fiel es ihm schwer, sie sich als wütende Furie vorzustellen.
»Ich hätte nur gern Gabriels Miene gesehen, als sie dort auftauchte. Und kannst du dir Tante Laine vorstellen?«
Johan imitierte sie treffend, ihre ängstliche Miene und wie sie die Hände vor der Brust rang. Er sprach mit schriller Stimme:
»Aber Solveig. Aber liebe Solveig, du kannst doch nicht solche Wörter benutzen.«
Beide Brüder sackten in Lachkrämpfen zusammen.
»Du, denkst du manchmal an Vater?«
Johans Frage ließ sie wieder ernst werden, und Robert schwieg ein Weilchen, bevor er antwortete.
»Ja, sicher. Obwohl es mir schwerfällt, an etwas anderes zu denken als daran, wie er an diesem Tag ausgesehen hat. Du kannst froh sein, daß du ihn nicht sehen mußtest. Und du, denkst du an ihn?«
»Ja. Oft. Aber das ist, als würde ich einen Film sehen, wenn du verstehst, was ich meine. Ich erinnere mich, wie fröhlich er immer gewesen ist, wie er Späße gemacht hat, herumgetanzt ist und mich in die Luft geschwenkt hat. Aber ich sehe es irgendwie von außen, genau wie bei einem Film.«
»Ich verstehe, was du meinst.«
Sie lagen Seite an Seite und starrten zur Decke hoch, während der Regen über ihnen auf das Blechdach trommelte.
Johan sagte leise: »Er hat uns doch geliebt, Robert?«
Robert erwiderte genauso still: »Klar hat er das, Johan, klar hat er das.«
Sie hörte, wie Patrik einen Schirm auf der Vortreppe ausschüttelte, und hievte sich mühsam vom Sofa, um ihn an der Tür zu empfangen.
»Hallo?«
Sein Ton war fragend, und er schaute verwundert umher. Ruhe und Frieden waren vermutlich nicht das, was er erwartet
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