Der Preis des Schweigens
war auch dann noch zu Trauer imstande, wenn die fünfzigste oder hundertste vermisste Person bleich und aufgedunsen am Fuß einer Klippe oder am Flussufer oder mit einer Nadel im Arm in einer schmuddeligen Wohnung auftauchte. Die meisten Polizisten verloren irgendwann diese Fähigkeit, für sie war jedes Opfer nur ein Aktenzeichen, eine weitere Aufgabe, die abgearbeitet werden musste. Das war nicht etwa Gefühllosigkeit oder Narzissmus, sondern ein ganz natürlicher Abwehrmechanismus, eine notwendige Abstumpfung, um täglich mit Tod und menschlichen Tragödien umgehen zu können, während die meisten anderen Menschen ihr behütetes Dasein führten und davon nichts wissen wollten.
Auch ich war nicht vor dieser Abstumpfung gefeit, wenn ich routiniert Vermisstenanzeigen verfasste (»… wurde zuletzt mit folgender Kleidung gesehen …«) und die Fotos verschwundener Personen mit kühler Präzision in meinem »Totenbuch« abheftete, einem ganz normalen schwarzen Aktenordner, den ich direkt neben meinem Computer aufbewahrte. Darin archivierte ich die Originalfotos, die wir für die Vermisstenanzeigen benutzten, für den Fall, dass die Angehörigen sie wiederhaben wollten. Neben jedes Foto schrieb ich akribisch Namen, Alter, Adresse und Beschreibung der abgebildeten Person sowie das Aktenzeichen. Ein ganzes Leben, auf eine Randnotiz reduziert. Bei diesen alltäglichen Verrichtungen spürte auch ich oft kein Mitgefühl mehr.
Ich beugte mich vor und küsste Dan auf die Stirn.
»Ärgere dich nicht, Liebling. Niemand ist schuld. Irgendjemand stirbt immer irgendwo, das wissen wir doch beide. Man darf sich nicht zu lange mit einem Tod aufhalten, denn der nächste kommt bestimmt.« Mit diesen Binsenweisheiten wollte ich ihn trösten. Erst viel später ging mir auf, dass sie nur teilweise stimmten. Irgendjemand starb immer irgendwo, aber ich irrte mich, wenn ich sagte, dass niemand daran schuld war.
Ich setzte mich noch ein wenig zu Dan und streichelte ihm den Rücken, um ihn aufzuheitern, bevor er sich mit einem Fertiggericht, das ich auf dem Heimweg vom Supermarkt mitgebracht hatte, auf den Weg zur Arbeit machte. Zwei Minuten später saß ich am Computer, um einen neuen Versuch zu starten, und tatsächlich funktionierte die Internetverbindung wieder. In meinem Posteingang wartete eine E-Mail von Justin, die er um sieben Uhr an diesem Morgen geschickt hatte, zur selben Zeit also wie die SMS. Sie enthielt die gleiche Forderung nach 300 Pfund, die gleiche Drohung, das gleiche Versprechen, dass er sich wieder melden würde.
Während immer größere Panik in mir aufstieg, tippte ich »Surfschlampen« bei Google ein. Noch vor einiger Zeit hätte ich nie für möglich gehalten, dass ich einmal das Internet nach Pornoseiten durchforsten würde, aber mittlerweile war ich an einem Punkt angekommen, an dem mich nichts mehr überraschte. Ich erhielt eine ganze Flut von Suchergebnissen. Das Wort »Schlampe« schien ein sehr beliebtes Suchwort zu sein. Als Alternative zu »Surfschlampen« wurde mir noch »Saufschlampen« angeboten.
In der Ergebnisliste fand sich nur eine Website, die ausdrücklich Amateurvideos anbot. Auf der Startseite war ein nacktes Mädchen auf einem Surfbrett abgebildet, das den Hintern in die Kamera reckte, bis wirklich gar nichts mehr der Fantasie überlassen war. Darunter wurden verschiedene Optionen angeboten.
Voller Angst vor dem, was mich erwartete, klickte ich nacheinander auf ein paar Vorschauen. Die Videos waren eindeutig von Laien gefilmt und alle ähnlich explizit: Blowjobs, Frauen, die Männer mit der Hand befriedigten, Sex von hinten und in anderen, kreativen Stellungen. In manchen Clips stöhnten die Frauen verführerisch in die Kamera oder machten Schmollmünder, in anderen lag ihr Gesicht im Schatten oder außerhalb der Kamerareichweite, sodass nur ihre Körper in all ihrer Pracht zu sehen waren. Der Hauptunterschied zwischen Amateurseiten und »professionellen« Seiten schien zu sein, dass hier gelegentlich noch Schambehaarung gezeigt wurde.
Ich klickte mich durch die angebotenen Highlights. »Klempner verlegt Rohr bei geiler Hausfrau.« »Keine lutscht so gut wie meine Freundin.« Glücklicherweise entdeckte ich nirgendwo meinen eigenen Körper, aber der Typ aus dem Wohnwagen tauchte in einem der Videos auf. Er wurde beim Sex mit einer jungen Frau mit langen blonden Haaren gezeigt, die sehr betrunken wirkte oder – wie ich inzwischen befürchtete – unter Drogeneinfluss stand. Sie war nicht
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