Der Preis des Schweigens
vollkommen besinnungslos, aber viel fehlte nicht. Der Hintergrund lag im Dunkeln, aber ich meinte das orangebraune Interieur von Justins Wohnwagen zu erkennen. Der Clip war vor ein paar Monaten hochgeladen und seither 297-mal angeklickt worden. Die Nutzer hatten zwischen drei und vier Sterne dafür vergeben.
Der Titel lautete »Annaleigh wird in den Arsch gefickt«. Hatte der Name Annaleigh nicht auf einem der Zettel im Cool Cymru -Führer gestanden? Ich war mir nicht ganz sicher, weil im Wohnwagen alles so schnell gegangen war, aber mir wurde trotzdem flau im Magen. Ich schloss die Website.
Minuten später hatte ich die Joggingschuhe an und rannte mit schnellen Schritten durch das schwächer werdende Abendlicht. Aber diesmal klappte es nicht, die ersehnte Ruhe wollte sich einfach nicht einstellen. Mit großen Schritten flog ich dahin, immer schneller und schneller, schoss über Blätter und Pfützen und Äste und wartete darauf, dass mein Körper Adrenalin ausschüttete und ich mich endlich wieder frei und leer fühlte.
Bitte, lieber Gott , flehte ich in Gedanken. Lass nicht zu, dass ich auf diese Weise im Internet bloßgestellt werde, als ein Klumpen Fleisch ohne jede Würde. Es war schlimm genug gewesen, das Video von Justin und mir in der Abgeschiedenheit meiner vier Wände zu sehen, aber es auf dieser oder einer ähnlichen Website zu wissen wäre noch viel demütigender gewesen. Ich wäre nur eins von vielen gesichtslosen Flittchen gewesen. Aber das war nicht meine Welt. So eine Frau war ich nicht.
Bilder von Geschlechtsteilen und Körperflüssigkeiten wirbelten in meinem Kopf herum, bildeten einen trüben Strudel, eine schäumende Mischung, die laut in meinem Schädel hin und her schwappte. Vor dem Kricketclub stemmte ich die Füße in den Boden und hielt an, keuchend, hustend und würgend. Taumelnd setzte ich mich auf die Stufen des Clubhauses und ignorierte die Jugendlichen, die auf einer Bank auf der anderen Seite des Spielfelds herumlungerten und rauchten, die Kapuzen zum Schutz vor der abendlichen Kälte tief in die Gesichter gezogen. Ich hörte, wie sie sich gegenseitig anstupsten und kicherten. Nach etwa einer Minute rief ein vierzehn- oder fünfzehnjähriger Junge herüber: »He, Süße! Ich geb dir fünf Pfund für ’nen Blowjob!«
Im Handumdrehen war ich aufgesprungen und über den Rasen zu der Bank gestürmt, auf der die Jungen saßen. Ein plötzlicher Adrenalinschub trieb plötzlich jene Muskeln an, die eben noch vor Anstrengung gezittert hatten. Ich brauchte eine Weile, bis ich wieder zu mir kam und merkte, dass ich den Jungen bei seinem Parka gepackt und ihn heftig gegen die Rückenlehne der Bank geschleudert hatte. Er schnappte nach Luft, und seine Augen wurden tellergroß vor Verblüffung. Seine Freunde verstummten. Ich beugte mich über ihn.
»Wehe, du richtest noch einmal das Wort an mich, du mickriges kleines Arschloch«, fauchte ich, dass die Spucke nur so flog. »Wenn du es noch einmal wagst, mich anzusprechen, trete ich dir dein verdammtes Grinsen aus dem Gesicht, du asozialer Scheißkerl. Hast du mich verstanden?«
Das Entsetzen in den Gesichtern seiner Freunde war erfreulich befriedigend. Der Junge starrte ein paar Sekunden in mein Gesicht und nickte dann abrupt. Ich ließ ihn los, und er rutschte mit eingezogenem Kopf ganz nach unten auf die Bank, während er seine verdrehte Jacke wieder gerade zog.
»Mann, was sollte das denn?«, fragte sein Kumpel vorwurfsvoll. »Das war doch nur ein Witz!«
Ich wischte mir mit der Hand über den Mund und musterte die Jugendlichen abschätzend. »Siehst du mich etwa lachen, du kleines Stück Scheiße?« Der Junge sah aus, als würde er gleich losheulen.
Ohne ein weiteres Wort rannte ich weiter. Nachdem mein Verstand einigermaßen zur Ruhe gekommen war, ging mir auf, dass die Jungen mich wegen Beleidigung und Nötigung anzeigen konnten. Aber das war es wert gewesen, denn für ein paar kurze Sekunden hatte ich mich besser gefühlt als seit vielen Wochen.
Dann flackerte eine Erinnerung in meinem Kopf auf und ruinierte das schöne Gefühl wieder. Zwei Kondome. Im Ferienhaus hatten an jenem Morgen zwei Kondome gelegen. Zwei.
17.
D as Klingeln des Telefons fing bereits an, mir ein Loch in die Stirn zu bohren. Anfangs war es ein kleines Loch, aber dann wurde es schnell zu einem Spalt, aus dem ein Großteil meines Gehirns entwich. In meinem Kopf war es so frisch und übersichtlich geworden wie an einem kühlen Morgen in der Prärie, wo die Luft
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