Der Preis des Schweigens
Grübchen neben seinen Mundwinkeln noch tiefer werden. »Ich denke, Sie und ich verstehen einander. Wirklich schade, dass wir uns nie wiedersehen werden. Sie wären eine echte Bereicherung für die Familie.«
»Ja, ich glaube, Sie haben recht«, antworte ich. »Wir verstehen einander wirklich.« Ich presse die Schachtel an meine Brust und nicke ihm zum Abschied zu, bevor ich mich dem Rest meines Hochzeitstages zuwende, dem Rest meines Lebens. In diesem Leben werden Vitali und alles, wofür er steht, wieder aufhören zu existieren.
Kurz darauf halte ich mit der Hand an der Tür noch einmal inne und drehe mich um, weil ich ihm ein letztes Mal zulächeln will, aber der Garten ist leer, und unter dem Baum ist nur der Schatten zurückgeblieben.
Im Laufe der Monate habe ich immer wieder an Vitali und mein Hochzeitsgeschenk gedacht, daran, was das alles zu bedeuten hatte. Ich werde niemals wieder mit irgendjemandem darüber sprechen können, wie groß die Versuchung auch sein mag. Die Sache mit dem Hochzeitsgeschenk ist jetzt mein Geheimnis, das ich bewahren muss, genau wie Dan sein Geheimnis zu bewahren versucht hat. Aber ich werde mich dabei geschickter anstellen als er.
Wie eigenartig, dass unsere Geheimnisse direkt miteinander zu tun haben. Als ich an jenem längst vergangenen Oktobermorgen Sophies Stimme aus seinem Handy gehört hatte, hatte ich daraus geschlossen, was jede Verlobte daraus geschlossen hätte: dass es eine andere Frau gab, dass er eine Affäre hatte. Wie konnte er nur? Wie konnte er es wagen?
Aber der arme Dan hatte ein ganz anderes Geheimnis gehütet. Dass Daniel Collins nicht sein echter Name war, zum Beispiel. Er hatte diesen Namen angenommen, weil er vor vielen Jahren beschlossen hatte, dass er jemand anders werden wollte. Seit damals lebte er mit einer Lüge, einer Lüge, die es ihm ermöglichte, ein Mann ohne Makel zu werden, ein Mann ohne Fehl und Tadel. Er lieferte niemandem einen Anlass, an seiner Identität zu zweifeln, am allerwenigsten mir.
Nach Sophies Anruf war er gezwungen, mich einzuweihen, und ich verstand seine Beweggründe, als ich ihm endlich zuhörte. Dazu war ich anfangs viel zu aufgebracht gewesen. Die Geschichte, die er mir an jenem Oktoberfreitag aufgetischt hatte, hatte in meinen Ohren wie ein absurdes Märchen geklungen, das er sich ausdachte, um einen Seitensprung zu vertuschen. Aber nachdem ich mir dann doch die Zeit genommen hatte, ihm zuzuhören, war mir einiges klar geworden. Nicht sofort, sondern im Laufe der Wochen und Monate, die vergingen.
Ich verstand, warum er den Nachnamen seiner Großtante Alice angenommen hatte, nachdem er als Junge zu ihr nach Bristol gezogen war. Er hatte es getan, weil er nichts mehr mit seinem Vater und dessen Familie zu tun haben und schon gar nicht deren Namen tragen wollte. Er hatte es getan, damit er als Daniel Collins neue Ausweispapiere beantragen und später zur Polizei gehen konnte, um die Laufbahn einzuschlagen, von der er immer geträumt hatte. Die Anforderungen an Polizeianwärter sind streng, und Bewerber werden einer gründlichen Sicherheitsuntersuchung unterzogen. Familiäre und sonstige Verbindungen werden genauestens durchleuchtet, um sicherzugehen, dass der Kandidat keinen unerwünschten Ballast mitbringt – Vorstrafen, Schulden oder – wie in Dans Fall – zwielichtige Verwandte. Dan wusste, dass ein junger Mann, dessen Vater einer bekannten Londoner Verbrecherfamilie mit Verbindungen nach Osteuropa angehörte (in die Ukraine, um genau zu sein), niemals in den Polizeidienst aufgenommen worden wäre.
Das wäre nicht angemessen gewesen, nicht transparent.
Und selbst wenn er es wie durch ein Wunder in die Ränge der Polizei geschafft hätte, hätte er immer wieder das Klischee widerlegen müssen, dass »der Apfel nicht weit vom Stamm fiel«, hätte akzeptieren müssen, dass er nicht befördert wurde, obwohl er es verdient hatte, dass man nicht offen und ehrlich mit ihm umging, hätte mit den Gerüchten, den Beleidigungen, dem Getuschel leben müssen.
Seine Mutter, die ebenfalls Alice hieß, war erst siebzehn gewesen, als sie von Bristol nach London abgehauen war, zu den funkelnden, faszinierenden Lichtern der Großstadt. Sie war jung und verhängnisvoll hübsch gewesen und hatte sich Arbeit in einer kleinen Boutique gesucht, in der sie Dans Vater Tom aufgefallen war. Er war damals sechsundzwanzig gewesen, ein großer, dunkler, gut aussehender junger Mann, der im aufstrebenden Familienunternehmen als Fahrer und
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